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Hartz IV: Experten erklären das große Problem des Systems

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Bild: Getty /privat / watson Montage
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Endstation Hartz IV: Experten erklären, warum viele mehr als 10 Jahre im System bleiben

27.08.2019, 08:29
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Vor fast 15 Jahren wurde in Deutschland ein System eingeführt, das erwerbsfähige Arbeitslose finanziell auffangen und dazu motivieren soll, sich wieder in den Arbeitsmarkt einzugliedern: das Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich auch Hartz IV genannt. Unter dem klangvollen Motto "Fördern und Fordern" sollen Langzeitarbeitslose dazu motiviert werden, wieder Eigeninitiative zu ergreifen und der finanziellen Abhängigkeit vom Staat so wieder zu entkommen.

Eigentlich.

Hartz IV ist gedacht als Leistung, die das Existenzminimum sichert – allerdings idealerweise nicht auf Dauer. So richtig aufzugehen scheint der Plan jedoch nicht.

Ist Hartz IV gescheitert?

Erst vor Kurzem wurden neue Zahlen von der Bundesagentur für Arbeit veröffentlicht, die zeigen: Fast jeder fünfte Hartz-IV-Empfänger bezieht seit zehn Jahren und länger finanzielle Leistungen vom Staat. Das sind knapp über eine Million Menschen. Etwa zwölf Prozent aller Bezieher sind schon seit 13 und 14 Jahren auf Hartz IV angewiesen.

Deutet es darauf hin, dass Hartz IV gescheitert ist, wenn das System für viele Menschen keine Durchgangsstation darstellt, sondern eine Endhaltestelle? Oder sind Langzeitarbeitslose einfach nicht gemacht für unseren Arbeitsmarkt?

Zieht man eine Zwischenbilanz von Hartz IV, ist die allgemeine Entwicklung durchaus positiv: Seit Einführung des Systems ist die Anzahl der Arbeitslosen in Deutschland mehr oder weniger konstant zurückgegangen. "Auch wenn einzelne Maßnahmen im Rückblick ­sicher diskussionswürdig sind: Insgesamt haben die Hartz-Reformen sehr viel gebracht", sagt Arbeitsmarktexperte Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung in Nürnberg in einem Interview mit der "Berliner Morgenpost".

Auch meint Weber, dass sich seit Einführung des Hartz-IV-Systems die Betreuung der Arbeitslosen in den neu entstandenen Jobcentern verbessert habe und auch Sozialhilfeempfänger, die bereits aufgegeben waren, wieder in Jobs vermittelt werden.

Dem widerspricht Armutsforscher und Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge. Im Gespräch mit watson sagt er: "Hartz IV schafft nur wenige Möglichkeiten, der Langzeitarbeitslosigkeit zu entkommen." Butterwegge erklärt, zur Einführung des Systems im Jahr 2005 wurde noch mehr Geld in die Qualifizierung, Weiterbildung oder Umschulung von Leistungsbeziehern gesteckt. "Schrittweise wurden immer mehr finanzielle Mittel für solche Maßnahmen gestrichen."

Langzeitarbeitslose wieder einzugliedern ist nicht einfach

Weiterhin kümmerten sich die Jobcenter auch stärker um die Fälle, die einfacher vermittelt werden könnten – vor allem um junge, gut qualifizierte Menschen, die noch nicht allzu lange im Hartz-IV-Bezug sind. Butterwegge sagt dazu:

"Wer sich um die sozial Abgehängten kümmert, also Menschen, die gesundheitliche, psychosoziale oder Suchtprobleme haben, muss mehr Energie, Zeit und schließlich auch Geld investieren. Das würde sich im Endeffekt negativ auf die Erfolgsquote der Jobcenter auswirken."

Am Ende ist es eben nicht so einfach, Menschen, die seit Jahren arbeitslos waren, wieder einzugliedern. Damit das funktioniert, braucht es laut Butterwegge ein Umdenken in der Gesellschaft: "Denn es ist unfassbar schwer, Menschen, die man so lange hat linksliegen lassen, wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren."

Wie lange diese Menschen "linksliegen gelassen" wurden, ist laut Statistik in vielen Fällen übrigens unklar: So können die Zahlen lediglich bis zur Einführung von Hartz IV nachverfolgt werden, bis zum 1. Januar 2005 also. Wer vorher wie lange Sozialhilfe bezogen hat und dann im Hartz-IV-System übernommen wurde, lässt sich in der Gesamtheit nicht nachvollziehen.

Das Problem daran ist: Wer vor der Einführung von Hartz IV schon Sozialhilfe bezogen und offenbar erwerbsfähig war, wurde gemeinsam mit den Arbeitslosen zum Jobcenter geschickt – obwohl viele Sozialhilfeempfänger damals schon nicht arbeitsfähig gewesen seien. Das meint zumindest Inge Hannemann. Hannemann hat fünf Jahre lang als Sachbearbeiterin in mehreren Jobcentern in Hamburg gearbeitet, sie ist Mitglied der Linken und war von 2015 bis 2017 Mitglied der Fraktion der Partei in der Hamburger Bürgerschaft. Mittlerweile ist sie eine der bekanntesten Kritikerinnen von Hartz IV.

Hartz-IV-Empfängern wird keine Perspektive geboten

Hannemann weiß aus ihrer beruflichen Erfahrung, dass es Menschen gibt, die sich nicht mehr in einen Job vermitteln lassen. Im Gespräch mit watson sagt sie:

"Jemand wie Arno Dübel, um ein prominentes Beispiel zu nennen (Dübel, Hartz-IV-Empfänger, trat früher regelmäßig mit reißerischen Aussagen in Talkshows auf, Anm.), hat zum Beispiel noch niemals gearbeitet. Also wird er sehr wahrscheinlich auch keine Arbeit mehr finden. Solche Menschen gehören nicht ins Jobcenter, sondern sollten eine Grundsicherung erhalten."

Das bedeutet also: Je länger ein Mensch einer geregelten Tätigkeit fernbleibt, umso schwieriger wird es, ihn wieder einzugliedern. Wer allerdings noch nie gearbeitet hat: Bei dem liegen möglicherweise andere, tiefer gehende und auf den ersten Blick nicht ersichtliche Probleme vor, die dazu führen, dass die Person in keine Arbeit vermittelt werden kann.

Langzeitarbeitslosigkeit schadet der Gesundheit

Mit der langjährigen Arbeitslosigkeit gehen oftmals gesundheitliche Einschränkungen einher: Einerseits kann natürlich beispielsweise eine chronische Erkrankung zur dauerhaften Arbeitslosigkeit führen. Andererseits kann diese auch gesundheitliche Folgen mit sich ziehen – die wiederum vom Arbeiten abhalten.

"Jeder dritte Mensch in Langzeitarbeitslosigkeit ist laut Studien psychisch krank", sagt Hannemann. "Jetzt kann man natürlich die Huhn-oder-Ei-Frage stellen: Waren die Menschen schon so, als sie anfingen, Hartz IV zu beziehen? Oder hat das System sie erst dazu gemacht?"

Arbeitgeber haben oft kein Verständnis für Langzeitarbeitslose

In ihrer Laufbahn als Sachbearbeiterin im Jobcenter hat Hannemann allerdings häufig beobachtet, wie Erwerbslose immer teilnahmsloser wurden, deren Stimmung kippte, sie an nichts mehr Freunde empfanden. "Und diese Entwicklung sieht man unabhängig vom sozialen oder beruflichen Hintergrund", betont Hannemann. "Beim ungelernten Hauptschüler genauso wie beim Professor."

Auch Butterwegge meint, Hartz-IV-Empfänger befänden sich in einer Stresssituation, weil sie ihre finanzielle Abhängigkeit vom Staat zumeist als belastend empfinden und teilweise unter psychischen Erkrankungen leiden: "So führt massiver Druck der Jobcenter-Mitarbeiter leicht in die Depression."

Vonseiten der Arbeitgeber herrscht nicht immer Verständnis für die prekäre Lage von Langzeitarbeitslosen. Immer wieder haben Hartz-IV-Empfänger bei Bewerbungen mit Vorurteilen zu kämpfen, die ihre Aussichten auf ein neues Beschäftigungsverhältnis verringern. So hat Hannemann es auch oft beobachtet bei den Bewerbungsversuchen ihrer Klienten:

"Die Arbeitgeber sehen dann im Lebenslauf: Der Bewerber bezieht vielleicht schon seit Jahren Hartz IV, denken, der hat dann keine Struktur, ist faul, unfähig. Viele Hartz-IV-Empfänger werden nicht einmal zum Bewerbungsgespräch eingeladen."

Es stimmt, dass es Zeit kosten kann, sich nach langer Zeit der Arbeitslosigkeit wieder in ein Beschäftigungsverhältnis einzugliedern. Manchmal klappt es auch nicht gleich mit dem ersten Job. Das ist für viele Arbeitgeber abschreckend.

Dennoch hat Hannemann vor einigen Jahren, als sie noch in der Politik arbeitete, eine Langzeitarbeitslose als wissenschaftliche Mitarbeiterin eingestellt. Die Frau war Ende 50 und von ihrer langen Arbeitslosigkeit gesundheitlich und psychisch angegriffen – für viele Arbeitgeber sind das No-Gos. Hannemann sagt aber:

"Obwohl sie ein paar inhaltliche Lücken aufwies, mochte ich sie gerne und dachte: Wenn sie zumindest eine Weile hier arbeitet, hat sie die Langzeitarbeitslosigkeit immerhin durchbrochen, ihr Lebenslauf sieht wieder besser aus."

Es dauerte für die Frau ein wenig, sich wieder in den Arbeitsalltag einzugewöhnen, erzählt Hannemann. Aber mit der Zeit ging es der Mitarbeiterin immer besser, sie fand sich gut in ihrer Arbeit zurecht. Mittlerweile arbeitet sie wieder in ihrem erlernten Beruf.

Kann der soziale Arbeitsmarkt Hartz-IV-Empfängern helfen?

Um Arbeitgebern neue Anreize zu schaffen, auch Hartz-IV-Empfänger einzustellen, wurde Anfang 2019 das Teilhabechancengesetz eingeführt, eine Maßnahme zum sozialen Arbeitsmarkt.

Was ist das Teilhabechancengesetz?
Mit dem Teilhabechancengesetz unterstützt der Staat Arbeitgeber mithilfe von Lohnkostenzuschüssen, wenn sie Langzeitarbeitslose einstellen. Je nachdem, wie lange der Betroffene schon arbeitslos war, erhält das Unternehmen in unterschiedlicher Höhe die Zuschüsse, die sich im Laufe des Förderzeitraums verringern. Dazu können die Arbeitslosen bezahlte Weiterbildungen in Anspruch nehmen und werden von Coaches begleitet, um nachhaltig in den Arbeitsmarkt zurückzufinden.

Hannemann hält die Maßnahme zum sozialen Arbeitsmarkt prinzipiell für richtig. Schwierig sei es allerdings, wenn der Arbeitnehmer nach Ablauf der staatlichen Förderung wieder gekündigt werden sollte – und während dieser Zeit keine Abgaben in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung gezahlt wurden. "Dann muss man wieder bei Null beginnen und landet erneut im Jobcenter", sagt Hannemann.

Auch Butterwegge meint, Maßnahmen wie das Teilhabechancengesetz seien ein erster Anfang. Allerdings gibt er zu bedenken:

"Wenn der Hartz-IV-Empfänger nach kurzer Zeit wieder hinschmeißt, taucht er in der Statistik der Langzeitarbeitslosen nicht mehr auf – schließlich war er kurzzeitig beschäftigt. Das Problem ist also nicht gelöst, die Anzahl der Langzeitarbeitslosen hat sich allerdings scheinbar verringert."

Weiterhin sieht es Butterwegge als problematisch an, dass der Staat die Unternehmen mit Lohnkostenzuschüssen unterstützt. "Schließlich sollten die Arbeitgeber – wie ihr Name sagt – selbst dafür sorgen, dass alle Menschen einen passenden Arbeitsplatz haben."

"Man muss verhindern, dass Menschen in solche Notlagen kommen"

Einfacher wäre es, wenn der Staat sich stärker dafür einsetzen würde, dass solche Situationen gar nicht entstehen, für die Maßnahmen wie das Teilhabechancengesetz notwendig sind. Auch Butterwegge sagt: "Man muss verhindern, dass Menschen überhaupt in solche Notlagen kommen."

Ob Hartz IV das richtige System ist, um zur Vermeidung von Langzeitarbeitslosigkeit beizutragen, ist jedoch fraglich – das findet auch Butterwegge:

"Hartz IV ist absurderweise ein System zur Disziplinierung seiner ‘Kunden’, das ihnen kaum Hilfestellung gibt und wenig Hoffnung macht. So kann man diesen Menschen nicht helfen, denn sie brauchen vor allem Unterstützung und Bestätigung. Hartz IV steht für das exakte Gegenteil."
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Mit mehr als 200.000 Neuerkrankungen pro Jahr ist Hautkrebs die häufigste Krebserkrankung in Deutschland. Die Zahl der damit verbundenen Todesfälle ist in den vergangenen Jahren immer weiter angestiegen. Im Jahr 2021 sind hierzulande 4100 Menschen an einer Hautkrebserkrankung gestorben, 20 Jahre zuvor waren es noch 2600 gewesen.

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