Einige Jahre arbeitete ich als Sachbearbeiterin in Hamburger Jobcentern. Vor sechs Jahren verlor ich meinen Job – nachdem ich mich weigerte, die in meinen Augen schon immer verfassungswidrigen Sanktionen gegen Hartz-IV-Empfänger auszusprechen. Heute weiß ich: Mein Rauswurf war im Grunde rechtswidrig. Aber darum geht es heute nicht, und zurück ins Jobcenter klagen will ich mich ohnehin nicht: Das Tolle an diesem Tag ist, dass der von so vielen geführte Kampf gegen Hartz-IV-Sanktionen endlich Wirkung zeigt.
Dass das Bundesverfassungsgericht heute ein so eindeutiges Urteil fällen würde, hätte ich nicht gedacht. Die Bundesagentur für Arbeit und das Arbeitsministerium haben eine richtige Klatsche kassiert. Die Leistungen um 60 oder 100 Prozent zu kürzen, ist offiziell verfassungswidrig. Im Grunde genommen dürfen Hartz-IV-Empfänger jetzt nur noch um 30 Prozent sanktioniert werden, alles andere ist verfassungswidrig. Notwendige Mietkosten werden auch im Sanktionsfall weiter übernommen. Das ist extrem wichtig, weil Sanktionen die Menschen so nicht länger in die Obdachlosigkeit treiben können.
Denn die Beträge stellen sowieso schon nur das Existenzminimum dar. Ich kann ein Existenzminimum nicht noch einmal minimieren – das war immer meine Überzeugung. Menschen, die psychisch oder physisch nicht in der Lage sind, die Maßnahmen des Jobcenters mitzumachen, dürfen wir nicht anfassen und ihnen auch noch das letzte Bisschen nehmen, was sie haben.
Was es mit Menschen macht, wenn sie zu 60 oder 100 Prozent sanktioniert werden, haben mir meine Jahre im Jobcenter auf eindrucksvolle und traurige Weise vor Augen geführt.
Die verlassen das Jobcenter mit einer 100-Prozent-Sanktionierung – und wir kriegen sie nicht mehr zu fassen. Wir verlieren sie. Das sind dann oftmals die Menschen, die in der Großstadt den ganzen Tag mit der U-Bahn und S-Bahn herumfahren. Sie leben auf der Straße, betteln, stürzen ab. Kurzum: Sie wenden sich vom System ab. Ihnen fehlt oft noch die Lebensreife, um anders mit einem solchen Einschnitt umzugehen.
Ich hatte einmal einen jungen Mann, der zu 100 Prozent sanktioniert worden war und viele Monate später zu mir kam. Immer wieder war seine 100-Prozent-Sanktionierung verlängert worden, weil der Mann nicht zu seinen Terminen erschienen ist beziehungsweise die Bewerbungsanzahl nicht erfüllte. Das ist aber ziemlich logisch, schließlich lebte er nach der Streichung all seiner Hartz-IV-Bezüge längst auf der Straße. Ab und zu hat er einmal ein Zimmer über die Kirche bekommen, aber eine feste Adresse hatte er schon gar nicht mehr. Wie soll er da zu seinen Terminen erscheinen, die ihm zugeschickt werden? Ich habe daraufhin die Sanktionen zurückgenommen, weil sie komplett rechtswidrig waren.
Im Laufe der mehreren Monate, die ich ihn betreute, stellte sich heraus: Das war ein hochintelligenter junger Mann mit einer tollen Auffassungsgabe. Er hatte einen sehr guten Realschulabschluss und eigentlich gute Voraussetzungen – die jedoch durch den äußeren Rahmen und das Jobcenter zerstört worden waren. Wir haben anschließend über die Zeitung eine Wohnung für den Mann gefunden, danach hat er auch einen Ausbildungsplatz bekommen und sein Leben war wieder okay. Das war aber erst möglich, nachdem ich die Sanktionen zurückgenommen hatte. Ansonsten wäre der Mann weiterhin gar nicht aufnahmefähig gewesen, sondern hätte jeden Tag aufs Neue nur mit einer Frage gekämpft: Wo schlafe ich heute Nacht?
Natürlich sagen viele Menschen immer: Wenn man schon Geld vom Staat bekommt, dann soll man gefälligst etwas dafür tun – irgendeinen Job gibt es immer. Da haben die Menschen ja auch grundsätzlich recht, natürlich ist es nicht tragisch, wenn ich mal drei Monate in einem Warenlager arbeite, obwohl ich ganz andere Fähigkeiten habe. Wichtig ist, dass man sich aus einem solchen Job dann woanders bewirbt.
Nach dem Motto: "Ich zahle Steuern, also muss der, der von meinen Steuern lebt, gefälligst das tun, was ich mir als Steuerzahler vorstelle." Doch es gibt Menschen, die in unserer Art von Leistungsgesellschaft nicht zurechtkommen. Und denen müssen wir unter die Arme greifen – mal abgesehen davon, dass auch jeder Erwerbslose mit seinem Einkauf Steuern bezahlt oder in der Vergangenheit oftmals zehn, 20 Jahre gearbeitet hat und hier natürlich auch Steuern abgeführt wurden. Nur das wird dann gerne vergessen.
Wenn wir dabei von "Fordern und Fördern" sprechen, geht es darum, Menschen zu helfen, nicht sie mit Sanktionen zu bestrafen. "Fordern" ist keine Erziehungsmaßnahme, sondern bedeutet Zusammenarbeit mit den Erwerbslosen: Welche Fähigkeiten bringt er mit? Was ist möglich? Als ich heute die Worte des Richters gehört habe, dachte ich mir: Das sind im Grunde meine Worte, als ich damals vom Jobcenter rausgeworfen wurde.
Für mich steht fest: Dieses Urteil ist schon mal ein großer Schritt nach vorne. Und alle Hartz-IV-Empfänger, die aktuell mehr als 30 Prozent Sanktionen erhalten, sollten jetzt unbedingt einen Überprüfungsantrag stellen oder in den Widerspruch gehen. Denn die Sanktionen sind schon jetzt ungültig. Der heutige Tag gibt damit Millionen Menschen in Deutschland endlich wieder eine echte Chance, ohne die ständige Angst haben zu müssen, dass ihnen die Wohnung unter den Füßen weggezogen wird.
Protokoll: Joseph Hausner