Intensivpfleger Ricardo Lange ist geboostert. Von einer Impfpflicht für seine Kollegen hält er trotzdem nichts. Bild: instagram/pfleger.ricardo
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Eigentlich war es schon beschlossene Sache: Die Impfpflicht für Beschäftigte in Kliniken und Pflegeheimen sollte ab dem 15. März gelten – so hatten es Bundestag und Bundesrat bereits im Dezember festgelegt.
Doch nun schert mit Bayern bereits das erste Bundesland aus. Ministerpräsident Markus Söder hatte am Montag angekündigt, die Impfpflicht für Pflegekräfte vorerst nicht umzusetzen. Er begründete dies mit sonst drohendem verschärftem Personalmangel in der Pflege. Es werde "großzügigste Übergangsregelungen" geben, was "de facto zunächst einmal auf ein Aussetzen des Vollzugs hinausläuft", sagte der CSU-Vorsitzende am Montag in München. "Für wie viele Monate wird man dann sehen", fügte er hinzu – jedenfalls zunächst für einige Zeit, "um das Ganze vernünftig zu gestalten".
Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hat seine Haltung gegenüber einen Impfpflicht in der Pflege geändert.Bild: dpa / Peter Kneffel
Und auch in Baden-Württemberg wird das Thema nun wieder debattiert, wobei es auch dort vor allem um die praktische Umsetzbarkeit der Impfpflicht geht. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat für die Zögerlichkeit der Bundesländer kein Verständnis. Er sagte am Dienstagabend im ZDF: "Wir haben ja bisher immer gut zusammengearbeitet und hier geht es um den Schutz derjenigen, die besonders gefährdet sind: ältere Menschen in Pflegeeinrichtungen, kranke Menschen in Krankenhäusern." Er hofft darauf, dass Bayern noch einlenkt.
Pfleger genervt über die Verwirrung
Doch was sagen die Pfleger selbst zu dem Debakel? Ricardo Lange hat dazu eine klare Haltung. Der 40-Jährige arbeitet als Intensivpfleger in Berlin und äußert sich seit Pandemie-Beginn immer wieder öffentlich zu Pflegethemen. "Mir könnte die Impfpflicht egal sein, denn ich bin geimpft und geboostert – aber ich finde diese Forderung unverschämt gegenüber meinen Kollegen und Kolleginnen", sagte er watson. "Zudem sieht man ja nun schon, wie ‚toll‘ das mit der Impfpflicht umgesetzt wird: Das erste Bundesland schert schon aus. Dieses Durcheinander der Länder zieht sich durch die Pandemie, jeder kocht sein eigenes Süppchen."
Das sei nicht nur verwirrend und mache die Maßahmen unglaubwürdig, sondern für die Berufsgruppe auch "schlichtweg ungerecht", wie Lange sagt: "Es kann doch nicht sein, dass Bayern ungeimpfte Pfleger weiter arbeiten lässt, aber in Berlin verlieren diese Menschen dann ihren Job?!"
Mehr Einheitlichkeit wünscht sich auch die Pflegebeauftragte der Bundesregierung, Claudia Moll. Sie sagte der Funke-Mediengruppe, es dürfe nicht wieder "ein solches Desaster passieren, dass eines der Bundesländer ausschert." Sie erwarte mehr Verlässlichkeit von den Ländern: "Die Länder haben die einrichtungsbezogene Impfpflicht gemeinsam im Bundesrat beschlossen, Bayern auch. Darauf muss sich jeder verlassen können." Die Regierung hält an ihren Plänen fest und will weiterhin zum 15. März die Impfpflicht für Pfleger einführen.
Impfpflicht für Pfleger oder nicht – Deutschland scheint gespalten
Damit holt sie allerdings nicht einmal die Hälfte ihrer Bevölkerung ab, wie eine aktuelle Erhebung des Meinungsforschungsinstituts YouGov nahelegt: Nur 46 Prozent der 1458 befragten Deutschen über 18 Jahren waren laut Ergebnissen gegen eine bundesweite Aussetzung, und damit für die einrichtungsbezogene Impfpflicht – 41 Prozent sprachen sich hingegen für den bayerischen Kurs, also dagegen, aus.
"Wir sind die Berufsgruppe, die sich seit Jahren mit Leidenschaft für ihre Patienten einsetzt und im Stich gelassen wird"
Intensivpfleger Ricardo Lange gegenüber watson
Deutschland scheint uneinig über diese Frage. Wann und in welcher Form die Impfpflicht für Pflegeberufe kommt, bleibt abzuwarten. Dass sie kommt scheint jedoch sicher – auch in Bayern geht es nur um eine Verzögerung, keine Aufhebung der Einführung. Genau das kritisiert Lange allerdings, der sich ganz generell gegen die Impfpflicht ausspricht. "Wir sind die Berufsgruppe, die sich seit Jahren mit Leidenschaft für ihre Patienten einsetzt und im Stich gelassen wird", sagt er im watson-Gespräch.
Ricardo Lange ist inzwischen auch Buchautor ("Intensiv. Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist")Bild: dpa / Jens Kalaene
"Pfleger haben lange die eigene Gesundheit aufs Spiel gesetzt"
Besonders in den Anfängen der Pandemie hätten sie als Pfleger jeden Tag die "eigene Gesundheit und die unserer Familien aufs Spiel gesetzt, haben Masken wiederverwendet, die dafür nicht ausgelegt sind, unsere Gesichtsvisiere selbst gebastelt und wurden infiziert zur Arbeit geschickt. Jetzt sagt man uns: 'Wenn du ab morgen nicht geimpft bist, musst du nicht mehr kommen, weil wir die Patienten vor dir schützen müssen.'"
Der Schutz vor Infektion sei nie Thema gewesen, als es noch um den Schutz des Personals gegangen sei. Doch auch den Pflegern, die damals ihre Gesundheit riskierten, könnte nun der Jobverlust drohen – sofern sie sich nicht impfen ließen. "Das ist eine unverschämte Doppelmoral uns Pflegekräften, aber auch den Patienten gegenüber", findet Lange.
Verschärft eine Impfpflicht den Personalmangel unter Pflegern?
Ob Doppelmoral oder nicht: Eine Impfpflicht des Pflegepersonals ist in Zeiten von eklatantem Personalmangel zumindest ein gewagter Schritt, der zu einer zusätzlichen Belastung und zu einer Verschlechterung der Situation in der Pflege führen könnte, warnte Söder. Es gebe "größte Sorge, dass dies eigentlich zu einer Überlastung und Schwächung des Gesundheitssystems führen könnte, weil es Ausweichbewegungen geben könnte."
"Anstatt ihre Versäumnisse aufzuarbeiten, gehen die Politiker nun die Menschen an, die das System überhaupt noch am Laufen halten. Das ist mehr als unverschämt."
"Ehrlich gesagt ist die Politik momentan doch gar nicht in der Position, um eine Impfpflicht durchzusetzen, denn sie können es sich nicht leisten, jetzt noch mehr Menschen nach Hause zu schicken", ist auch Lange überzeugt. "Es gibt doch schon überall zu wenig Arbeitskräfte in den medizinischen und pflegenden Bereichen. Aber dieses Problem hätte die Regierung viel früher beheben müssen – vor Jahrzehnten. Anstatt ihre Versäumnisse rechtzeitig aufzuarbeiten, gehen die Politiker nun die Menschen an, die das System überhaupt noch am Laufen halten. Das ist mehr als unverschämt.“
Ähnlich formuliert es der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK): Dass jetzt Einrichtungsträger Sorge haben müssten, nach Eintritt der Impfpflicht ihrem Versorgungsauftrag nicht mehr nachkommen zu können, zeige laut DBfK, dass durch die langjährige Vernachlässigung der Pflegeberufe ein ernsthaftes Gesundheitsproblem entstanden sein könnte. "Die Verantwortung dafür hätte aber die Politik zu tragen, nicht einzelne Pflegende mit ihrem Impfverhalten", so der DBfK in einer Stellungnahme.
Quantität statt Qualität beim Pflegepersonal
"Sich jetzt zu wundern, dass einzelne Mitarbeitende nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen folgen, ist grotesk"
Christel Bienstein, Präsidentin des Berufsverbandes der Pfleger
Verbandspräsidentin Christel Bienstein geht sogar noch weiter und mahnt: "Bei all den vergangenen Versuchen, dem Pflegenotstand etwas entgegenzusetzen, war das Mittel der Wahl, möglichst viel Personal ungeachtet der Qualifikation einzusetzen." Das hätte in den vergangenen Jahren zwangsläufig zu einer "Deprofessionalisierung" geführt, die "billigend in Kauf genommen wurde. "Sich jetzt zu wundern, dass einzelne Mitarbeitende nicht den wissenschaftlichen Erkenntnissen folgen, ist grotesk", so Bienstein. Oder anders formuliert: Über Impfskeptiker dürfe man sich nicht wundern, wenn das eingesetzte Personal keine ordentliche medizinische Ausbildung mehr erhalten habe.
Mehr Gehalt als Trostpflaster
Laut aktuellen Zahlen des Robert-Koch-Instituts und der Deutschen Krankenhausgesellschaft sind 95 Prozent der Pfleger in Kliniken und 81 Prozent dieser Beschäftigten in Pflegeeinrichtungen geimpft. Das ist eine deutlich höhere Impfquote als in der Gesamtbevölkerung. Dennoch scheint der Ausfall jedes fünften Kollegen in Pflegeheimen in Anbetracht der Omikron-Welle problematisch. Es sei aber nicht Aufgabe der ungeimpften Pfleger, dieses Problem jetzt auszubaden, sondern der Politik, prangert Ricardo Lange an.
"Ich frage mich: Wenn es wirklich um die Gesundheit und den Schutz der Patienten geht – warum toleriert die Politik den Personalmangel dann schon seit Jahren? Wenn man Patienten und Bewohner in Pflegeheimen wirklich schützen will, dann sollte man nicht zuerst eine Impfpflicht aussprechen, sondern genau diesen, seit Jahren ignorierten, Personalmangel angehen. Denn: Personalmangel gefährdet Patienten und kann zu lebensbedrohlichen Situationen führen. Das ist ein durch Studien belegter Fakt, den ich leider selbst oft genug im Arbeitsalltag erlebt habe."
Ricardo Lange zu watson
Die Mittel der Wahl, um diesen Personalmangel zu beheben, seien allzu oft: Niedrigere Hürden, um in den Beruf zu kommen und finanzielle Anreize. So hat sich erst am Dienstag die zuständige Pflegekommission auf eine schrittweise Anhebung der Mindestlöhne bis Ende 2023 geeinigt: Pflegefachkräfte sollen dann zum Beispiel 18,25 Euro statt 15 Euro pro Stunde erhalten.
"Zwei, drei Jahre hält einen mehr Geld vielleicht noch bei der Stange, aber letztlich muss es eine Kombination sein: Ein gutes Gehalt und – viel wichtiger – bessere Arbeitsbedingungen."
Pfleger Ricardo Lange
Für Ricardo Lange sind das natürlich gute Nachrichten, aber Lohnerhöhungen seien immer nur eine kurzfristige Lösung, gibt er zu Bedenken: "Zwei, drei Jahre hält einen mehr Geld vielleicht noch bei der Stange, aber letztlich muss es eine Kombination sein: Ein gutes Gehalt und – viel wichtiger – bessere Arbeitsbedingungen. Ändert sich der Stresspegel in unserem Beruf nicht, wird irgendwann auch noch der letzte Pfleger seinen Arbeitsplatz verlassen."
(mit Material der afp und dpa)
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