Jeder hat wohl einen Menschen im Freundeskreis, der es besonders "wild treibt": wechselnde Partner:innen, sexuelle Experimente und lustige Dating-Geschichten. Wer selbst eher seltener Sex hat, mag daneben schon einmal etwas neidisch werden, sich geradezu langweilig fühlen.
Wer viel Sex hat, dem geht es augenscheinlich sexuell gut, oder? So jemandem fehlt nichts, so jemand darf sich nicht über sein Liebesleben beschweren? Das gilt nicht immer.
Denn natürlich kann ein ausschweifendes Sexualleben von Freiheit und Offenheit zeugen und das Leben bereichern. Doch nicht immer sind die Menschen, die häufigen Geschlechtsverkehr mit zahlreichen Partner:innen haben, deshalb auch automatisch glücklicher.
Wir sprachen darüber mit Julia Henchen. Sie ist Sexualtherapeutin in Baden-Württemberg und Autorin des Buches "Lustfaktor". Im Gespräch mit watson berichtet sie, was sie bei ihrer Arbeit beobachtet.
Vorerst stellt sich die Frage, was denn überhaupt eine adäquate Menge an Sex wäre. Diese Frage führt jedoch nirgendwohin, denn: "Was als 'viel' und 'wenig' Sex empfunden wird, ist extrem individuell", erklärt Henchen, "Es gibt Paare, die haben mehrmals die Woche Geschlechtsverkehr und trotzdem reicht es ihnen nicht."
Dasselbe gilt natürlich für Beziehungen, in denen es seltener zu Sex kommt, alle Beteiligten aber vollkommen zufrieden mit der niedrigen Frequenz sind. "Wenn sich zwei Menschen finden, die dasselbe Bedürfnis haben, ist das doch wunderbar", sagt die Therapeutin und führt aus:
Wer also mehrmals die Woche, vielleicht mehrmals am Tag miteinander ins Bett geht, braucht sich für den hohen Sex-Drive kein bisschen zu schämen. Doch gibt Henchen zu Bedenken: "Wenn Menschen sehr viel Sex haben, kann das auch bedeuten, dass sie unglücklich sind und sich nach Nähe sehnen."
Die entscheidende Frage ist, in welchem Zusammenhang es zu Sex kommt und vor allem warum. Ist es Lust? Liebe? Einsamkeit? Der Wunsch, gesehen zu werden? Es gibt viele Gründe, warum Menschen miteinander ins Bett gehen, aber nicht immer tun sie sich dabei etwas Gutes.
"Manchmal ist ein 'Zuviel' an Sex auch ein Warnhinweis. Da muss man sich die Hintergründe etwas genauer anschauen", sagt die Sexualpädagogin. "Viel Sex kann bedeuten, dass jemand nach Bindung sucht und in schwierigen Phasen kann das auch mal riskant werden."
Dazu erklärt sie weiter:
Ganz klar: One-Night-Stands sind nicht pauschal problematisch. Doch wenn im Alkohol- oder Drogenrausch die eigenen Grenzen mit Fremden überschritten werden, fühlt man sich unter Umständen hinterher eher schlechter als besser. Nicht auf die eigenen Bedürfnisse und Grenzen aufzupassen, kann in diesen Fällen dann zu gesundheitlichen und emotionalen Verletzungen führen.
Sehr aktive Verführer:innen sind also nicht zwangsläufig auch diejenigen, deren Sexualleben am erfülltesten ist – auch wenn es nach Außen hin schnell so scheint. Manchmal umgibt sie eher eine innere Unruhe. "Aus der Praxis muss ich daher sagen: Nur weil jemand sehr viel Sex hat, ist er nicht automatisch glücklicher", fasst Henchen zusammen.
Ob wenig oder viel Sex spielt also bei weitem nicht so eine große Rolle für das Wohlbefinden wie die Frage: Tut mir das Sexualleben, das ich führe, eigentlich gut? Wer seine Bedürfnisse, seine Lustfaktoren und Grenzen kennt und achtet, wird am ehesten Spaß beim Sex erleben – ganz gleich ob ein- oder fünfmal die Woche.