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Der GAU vom Atomkraftwerk in Tschernobyl: Das passierte am 26. April 1986

ARCHIV - 01.10.1986, Ukraine, Tschernobyl: Reparaturarbeiten am explodierten ukrainischen Atomkraftwerk Tschernobyl. Die Ukraine gedenkt am 26. April der Opfer der verheerenden Explosion im damals noc ...
Am 26. April 1986 geschah im Kernkraftwerk Tschernobyl der größte anzunehmende Unfall (GAU), die Kernschmelze des Reaktors 4.Bild: dpa / epa Tass
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Die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl: Das passierte am 26. April 1986

25.04.2023, 19:1926.04.2023, 16:39
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Jenen, bei denen der Name Tschernobyl nicht ohnehin unangenehme Erinnerungen aus der Kindheit oder Jugend hervorruft, wird der Ort in der Ukraine im März 2022 ins Bewusstsein gerückt sein: Kurz nach dem Beginn des russischen Angriffskrieges am 24. März waren Tschernobyl und sein Unglücksreaktor plötzlich Zentrum eines umkämpften Gebiets.

Worte, die bereits 1986 in Zusammenhang mit dem Atomkraftwerk in Gebrauch waren, wurden erneut ausgesprochen: GAU – für "größter anzunehmender Unfall" und "tiefe Besorgnis" – verwendet vom Generaldirektor der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA) Rafael Grossi.

Zur Besorgnis gab es guten Grund: Bei der Besetzung des Atomkraftwerks durch das russische Militär gleich am ersten Tag des Krieges war durch schweres Gerät wie Panzer radioaktiver Staub aufgewirbelt worden und damit die Strahlenbelastung des ohnehin schwer verseuchten Gebiets rund um den Reaktor erhöht worden.

Das Reaktorunglück von Tschernobyl

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Das Reaktorunglück von Tschernobyl
So sah der nach der Explosion zerstörte Reaktor 4 im August 1986 aus. Zu diesem Zeitpunkt errichtete man bereits eine Konstruktion aus Stahlbeton, um den offenen Reaktorkern und die daraus entweichende Strahlung abzuschirmen.
quelle: www.imago-images.de / imago images
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Dieser Vorfall zeigte: Tschernobyl ist auch heute noch mehr als nur der vierte Reaktorblock eines stillgelegten Atomkraftwerks (AKW), der am 26. April 1986 explodierte. Durch die russische Besetzung war die sachgemäße Wartung des Reaktors durch das ukrainische Personal vor Ort für einige Zeit gefährdet.

Doch wie kam es vor 37 Jahren eigentlich zu dem GAU im Kernkraftwerk Tschernobyl? Welche Auswirkungen hatte das Unglück? Watson hat die wichtigsten Fakten zusammengetragen.

Was passierte vor dem GAU?

Eigentlich galt der Atomreaktor von Tschernobyl als Vorzeigeprojekt für Kernenergie in der damaligen Sowjetunion. In der Unglücksnacht des 26. April 1986 sollte eigentlich nur die Sicherheit des Reaktors bei einem Test überprüft werden. Dieser geriet aber aufgrund von Bedienungsfehlern und Konstruktionsmängeln des Reaktors völlig außer Kontrolle.

Reaktorhalle des Lenin Atomkraftwerks in Tschernobyl
So sahen die Reaktorhallen des Atomkraftwerks Lenin in Tschernobyl vor der Katastrophe aus. bild: IMAGO / ITAR-TASS

Am 25. April 1986 sollte in Block 4, der erst 1983 fertiggestellt wurde und quasi nagelneu war, ein Versuch durchgeführt werden. Durch einen simulierten Stromausfall sollte nachgewiesen werden, dass das Kraftwerk auch ohne externen Strom selbst genügend Energie produzieren würde, um eine Notkühlung des Reaktors sicherzustellen. Dafür musste die Leistung des Reaktors heruntergefahren werden. Fatalerweise, und auch noch völlig unnötig, schalteten die Techniker das Notkühlsystem des Reaktors für den Test aus.

Doch noch während der Reaktor heruntergefahren wurde, meldete Kiew einen erhöhten Strombedarf. Das Experiment wurde verschoben. Der Reaktor blieb aber auf einer Leistung von 50 Prozent und das Notkühlsystem ausgeschaltet.

In der Nacht auf den 26. April wurde das Experiment fortgesetzt. Die Leistung des Reaktors wurde noch weiter heruntergefahren, um die Minimalleistung zwischen 20 und 30 Prozent zu erreichen. Darunter durfte er nicht betrieben werden, sonst bestand die Gefahr, dass der Reaktor außer Kontrolle geraten konnte.

Wie kam es zur Kernschmelze?

Beim Herunterfahren des Reaktors 4 unterlief einem der Techniker ein folgenschwerer Fehler, vermutlich durch die Eingabe eines falschen Wertes: Die Reaktorleistung fiel auf nur noch ein Prozent. Um die Leistung rasch wieder anzuheben, beschlossen die Techniker, Steuerstäbe, mit denen die atomare Kettenreaktion kontrolliert werden konnte, zu entfernen. Trotz der Maßnahme stieg die Leistung auf nur sieben Prozent, der Reaktor befand sich bereits in einem äußerst instabilen Zustand.

Kontrollraum des Reaktor 4 in Tschernobyl.
Hier begann möglicherweise das Unglück: Kontrollraum des Reaktors 4 in Tschernobyl.bild: IMAGO / CTK Photo

Ein weiterer Fehler: Der stellvertretende Chefingenieur bestand weiter auf die Durchführung des Experiments. Die Techniker blockierten daraufhin das Signal für die Schnellabschaltung des Reaktors entgegen der Sicherheitsvorschriften und die Sicherheitsventile der beiden Turbinengeneratoren wurden geschlossen. Dadurch verringerte sich der Kühlwasserzufluss im Reaktor und die Temperatur stieg rasant an.

Nukleare Kettenreaktion

Eine unkontrollierte Kettenreaktion setzte ein: Es kam unvermittelt zu einer starken Steigerung der Reaktorleistung. Der Versuch, die Kettenreaktion durch eine Notabschaltung zu unterbinden, schlug fehl. Die Führungskanäle für die Steuerstäbe waren aufgrund der enormen Hitze bereits verformt und konnten nicht wieder eingefahren werden. Innerhalb von Sekunden kam es zu einer extremen Temperatursteigerung in den Brennelementen, bei über 2000 Grad setzte die Kernschmelze ein.

Kurz darauf ereigneten sich zwei Explosionen, wahrscheinlich ausgelöst durch große Mengen Wasserstoff und Kohlenmonoxid, die sich gebildet hatten und mit dem Sauerstoff unterhalb des Reaktordeckels reagierten. Dabei wurde die tonnenschwere Abdeckplatte des Reaktorkerns abgesprengt und das Dach des Gebäudes aufgerissen. Große Mengen an radioaktivem Material wurden freigesetzt und von der Explosion bis in die Atmosphäre geschleudert.

Was passierte danach?

Die sowjetische Führung schickte zur Eindämmung der Katastrophe die sogenannten "Liquidatoren". Diese über 800.000 Helfende waren Wehrdienstleistende, aber auch Hubschrauberpiloten, Polizisten, Feuerwehrleute, Bergleute, Kletterer, Betonarbeiter, Busfahrer, Ärzte und Krankenschwestern. Sie arbeiteten zum Teil monatelang in Tschernobyl, meist ohne ausreichende Schutzkleidung.

Kantine der Liquidatoren von Tschernobyl.
Trügerisch harmloser Arbeitsalltag: Die Kantine der Liquidatoren in einer umfunktionierten Fahrzeugservicestelle.bild: IMAGO / ITAR-TASS

Die Liquidatoren mussten unter anderem auf die Dächer neben dem offenen Reaktor klettern, um verstrahlte Grafitblöcke einzusammeln, die durch die Explosion hochgeschleudert worden waren, und in den Krater des Reaktors werfen. Sie durften immer nur jeweils 40 Sekunden auf dem Dach bleiben, da sonst die Strahlenbelastung zu groß geworden wäre.

Aus Hubschraubern wurden mehrere Tausend Tonnen unterschiedlichster Materialien in den Reaktorschlund abgeworfen: Bor, um die Kettenreaktion zu begrenzen, Dolomit sollte die Graphitbrände löschen, Bleibarren die Gammastrahlung verringern, Sand und Lehm freigesetzte Teilchen filtern. Trotz aller Maßnahmen schleuderte der Reaktor wie ein Vulkan über zehn Tage lang heiße Asche und radioaktive Gase in den Himmel.

Welche Folgen hatte der Atomunfall?

Tschernobyl wurde zum Synonym für schlechte sowjetische Informationspolitik. Über das Ausmaß der Katastrophe und die Opfer fiel zunächst kein Wort, selbst die in unmittelbarer Nähe lebenden Menschen erfuhren nichts. Erst am 29. April war in der sowjetischen Nachrichtenagentur "Tass" die Rede von einer "Katastrophe".

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Aus der nächstgelegenen Stadt Prypjat wurden erst 36 Stunden nach dem GAU 49.360 Menschen, darunter etwa 15.500 Kinder, evakuiert. In den darauffolgenden Tagen wurden 160.000 Menschen aus einem Umkreis von 30 km um den Reaktor weggebracht. In den folgenden Jahren wurden nochmal 210.000 Einwohner umgesiedelt, dies betraf auch Orte rund um Kiew und in Weißrussland.

Prypjat Autoscooter
Ein Autoscooter in der verlassenen Stadt Prypjat nahe Tschernobyl 2021.bild: IMAGO / Westend61

Bis heute besteht um Tschernobyl eine 4300 Quadratkilometer große Sperrzone, ein Gebiet in einem Radius von 37 Kilometern um den Reaktor ist auf unabsehbare Zeit radioaktiv verseucht.

Auswirkungen der Verstrahlung

Von den gesundheitlichen Folgen der Katastrophe betroffen waren vor allem die Menschen in Weißrussland. Dort stieg die Zahl der Schilddrüsen- und anderer Krebserkrankungen nach dem Reaktorunglück stark an. Auch Schwangere und ihre Kinder litten erheblich unter den Folgen der Strahlung. Allein in Deutschland soll es aufgrund des GAUs geschätzt 1.000 bis 3.000 Tod- und Fehlgeburten gegeben haben. Am schlimmsten betroffen waren jedoch die Liquidatoren: Zwischen 112.000 und 125.000 sollen an den Folgen ihrer Arbeit gestorben sein.

Geigerzähler misst radioaktive Strahlung auf einem Acker.
Bis heute ist die radioaktive Belastung durch den GAU in Tschernobyl vielerorts messbar, auch in Süddeutschland.bild: IMAGO / YAY Images

Die radioaktive Wolke zog Tausende Kilometer weit über Europa und die Sowjetunion, bevor sie als "saurer" Regen aus der Atmosphäre gewaschen wurde und die Radioaktivität in den Boden überging. Am 29. April erreichte die radioaktive Wolke Deutschland, aufgrund intensiver Regenfälle war vor allem Süddeutschland betroffen. Noch heute sind Pilze und Wild in Bayern und Baden-Württemberg radioaktiv belastet.

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