Frau Miller, im Schnitt schauen wir weltweit sieben Stunden pro Tag auf einen Bildschirm. Sind wir alle süchtig?
Anna Miller: Mir scheint die Angabe sogar zu niedrig zu sein, wenn ich davon ausgehe, dass viele von uns – ich inklusive – an vielen Tagen achteinhalb Stunden am Computer arbeiten, zwischendurch das Handy benutzen und am Abend beispielsweise noch Netflix schauen. Aber der Durchschnitt berücksichtigt auch Berufe und Generationen, deren Alltag weniger digitalisiert ist. Aber tendenziell sind wir alle überdigitalisiert.
Aber nicht abhängig?
Sucht ist ein schwieriger Begriff. In Fachkreisen spricht man im Moment noch von Süchten innerhalb des Digitalen, wie Kaufsucht, Pornosucht, Gamesucht, Social-Media-Sucht, aber nicht von Digitalsucht an sich. Dabei sind die meisten von uns länger online, als wir es sein wollen. Viele von uns spüren einen Sog, dem wir uns nicht entziehen können.
Warum zieht es uns so rein?
Programmierer und Psychologinnen im Silicon Valley haben die Apps so programmiert, dass es einen Überraschungseffekt gibt: Bei einer Nachricht oder Mail wissen wir erst, was drinsteht, wenn wir sie aufmachen – wie bei einem Geschenk. Außerdem reguliert das Handy auch unsere Emotionen. Wenn wir uns in einem Moment unsicher oder einsam fühlen und diesem Zustand entkommen wollen, hilft uns das Handy dabei. Und je öfter wir das tun, desto eher wird das Handy zur ersten Antwort, wenn es uns schlecht geht. Bleiben wir beim automatisierten Griff zum Smartphone, verlernen wir aber mit der Zeit, negative Gefühle auszuhalten, und fühlen uns gestresst, wenn wir der antrainierten Gewohnheit mal nicht nachkommen.
Indem wir etwa unser Handy nicht checken?
Genau. Nach ein paar Minuten wollen wir wieder auf das Handy schauen, um uns zu vergewissern, dass noch alles in Ordnung ist, wir also sozial noch eingebunden sind. Tun wir das nicht, werden wir nervös. Wir zeigen typische Angstsymptome. Das ist eine Entzugserscheinung, die ich auch von mir selbst kenne.
Wieso passiert das?
Wir nehmen 150-mal am Tag das Handy in die Hand. Indem wir regelmäßig zum Handy greifen, vergewissern wir uns, dass alles in Ordnung ist. Haben wir diese Gewissheit mal nicht, weil unser Handy zum Beispiel keinen Akku hat, löst das Angstsymptome in uns aus.
Kann man sich das abtrainieren?
Wir sind es gewohnt, sehr schnell auf Sachen zu reagieren – und haben Angst vor negativen Konsequenzen, wenn wir das mal nicht tun. Wenn ich zum Beispiel zwei Stunden ungestört arbeiten möchte, lege ich das Handy in einen anderen Raum, lasse es auf laut, schalte aber die Notifications aus. So bleibe ich im Notfall erreichbar, bin aber nicht ständig abgelenkt. Oder ich stelle mir einen Wecker und versuche, während einer Stunde nicht auf das Handy zu schauen. Und dann mache ich, ganz wichtig, den Realitätscheck: Nichts passiert. Nichts verpasst. Alles gut. So trainiere ich mein Nervensystem hin zu mehr Sicherheit.
Sie sagten, Sie kennen diese Entzugserscheinung von sich selbst. Wann haben Sie verstanden, dass Ihr digitales Verhalten problematisch ist?
Mein Problem war nie, dass ich stundenlang am Handy hing, sondern eher, dass ich ständig draufgeschaut habe. Das nennt sich "compulsive checking", zwanghaftes Nachschauen. Das Handy wurde zur zweiten Ebene in meinem Kopf. Ich fragte mich immer: "Uh! Wo ist es und was macht es?" Ich war abhängig von einer "digital response", einer digitalen Antwort.
Inwiefern?
Wenn ich zum Beispiel etwas gepostet hatte, verbrachte ich den halben Tag damit, ständig auf meinem Handy zu schauen, wie viele Reaktionen ich bekommen habe. Ich konnte mich erst beruhigen, wenn die digitale Aufmerksamkeit tatsächlich nachgelassen hatte.
Kenne ich. Was steckt dahinter?
Wir Menschen haben ein Bedürfnis nach Anerkennung, Verbundenheit, Wertschätzung. Die sozialen Medien bauen darauf auf: Wir können uns mit Menschen aus der ganzen Welt vernetzen, von ihnen gesehen und im besten Fall gar gelobt werden. Auch wollen wir Schmerz vermeiden, Lust und Freude maximieren und haben eine spielerische Sehnsucht nach Abwechslung, aber auch nach Routine. All das wird von den sozialen Medien bedient, was dazu führen kann, dass sich unsere Bildschirmzeit am Ende des Tages eben auf sieben Stunden beläuft.
Dem Scrollen liegt also ein anderes Bedürfnis zugrunde. Warum aber dieses Ausmaß? Im Schnitt wechseln wir in den sozialen Medien alle 19 Sekunden von einem Beitrag zum nächsten.
Und bei jedem Beitrag wird Dopamin ausgeschüttet. Die Glücksgefühle, die dadurch ausgelöst werden, lassen uns immer weiterscrollen. Dopamin ist grundsätzlich ein guter Botenstoff, der nicht nur über das Digitale ausgeschüttet wird, sondern auch, wenn wir Sex haben oder einen Burger essen oder Achterbahn fahren.
Warum fühlen wir uns am Abend so ausgelaugt, wenn wir tagsüber so viel Glück gespürt haben?
Unser Gehirn wird im Internet mit mehr Dopamin geflutet, als es evolutionsbiologisch verarbeiten kann. Es kompensiert den Überschuss, indem es in ein Tief geht – das ist, wie wenn man MDMA nimmt, da hat man danach auch einen Kater.
Gewöhnt sich das Gehirn nicht irgendwann daran?
Nein. Unser Gehirn hat sich, seit es uns als Menschen gibt, nur minimal verändert. Die Emotionen und Informationen, denen wir täglich ausgesetzt sind, stellen für unser System einen Stress dar. Das kann man regulieren, indem man Erholungsphasen einlegt, das Handy weglegt, an die frische Luft geht. Unser Nervensystem braucht diese Balance.
Was passiert sonst?
Wenn wir ein konstant überaktiviertes Nervensystem haben, kann das krankmachen: Es stresst den Körper, stört den Schlaf, erhöht die Angst und führt zu emotionaler Gereiztheit – was sich negativ auf unsere zwischenmenschlichen Beziehungen auswirken kann. Kurz: Wir haben weniger Ressourcen, um mit uns selbst und anderen konstruktiv umzugehen.
Was hilft dagegen?
Mehr in den Körper kommen, in den Bauch atmen, in die Natur gehen und vor allem digitales Tempo herausnehmen, indem wir uns etwa einen analogen Wecker kaufen, eine Stunde vor dem Schlafengehen alle Bildschirme in einen anderen Raum legen und auch beim Aufstehen versuchen, nicht sofort zum Handy zu greifen. So ermöglichen wir unserem System, in Ruhe runter- und wieder hochzufahren.
Ihr Buch "Verbunden. Wie du in digitalen Zeiten wieder Platz schaffst für Dinge, die dir wirklich wichtig sind" ist Ende Februar erschienen und plädiert für einen bewussten Umgang mit dem Digitalen – wie geht das?
Digitale Achtsamkeit bedeutet, dass das Smartphone nicht die erste Go-To-Strategie ist, wenn wir aus dem Büro kommen, im Zug sitzen oder wir kurz alleine sind, weil das Gegenüber auf die Toilette gegangen ist. Ein bewusster Umgang heißt aber nicht, dass wir unsere Bildschirmzeit immer einhalten müssen oder keinen Serienmarathon machen können, sondern, dass wir schneller merken, wenn es uns unfreiwillig wieder reinzieht.
Sind Sie digital glücklich?
Mehr als früher. Inzwischen habe ich verstanden, dass ich mehr Möglichkeiten habe, um meine Grundbedürfnisse zu befriedigen, als nur das Digitale. Das klingt banal, aber ich musste erst begreifen, dass ich für einen Artikel nicht hundert Likes brauche, sondern, dass auch ein Kompliment eines Kollegen reicht. Das ist das eine. Und das andere ist: Ich weiß jetzt, wann mich das Digitale eher hemmt, statt mir hilft.
Das heißt?
Es geht darum, dass man die digitalen Möglichkeiten für Wachstum nutzt. Man kann sich auf YouTube ruhig in einem Video erklären lassen, wie man eine dreistöckige Torte bäckt, aber man sollte sie danach auch backen – und vielleicht dann auch daran scheitern und daraus lernen. Wir wachsen nicht, wenn wir die Reels, die wir uns anschauen, nicht in die Realität umsetzen.
Digitale Geräte sind demnach nur sinnvoll, wenn sie als Mittel zum Zweck dienen. Sie sollen uns das Leben erleichtern, aber seit Social Media erschweren sie es eher, weil wir weniger zum Leben kommen.
Richtig. Viele von uns schöpfen ihr Potenzial nicht aus – und das ist im Grunde sehr schade.
"Sein Potenzial ausschöpfen" – ist das nicht auch ein leistungsorientierter Gedanke, im Sinne, ohne Handy sind Sie weniger abgelenkt und darum produktiver?
Es geht darum, in digitalen Zeiten Platz zu schaffen, für die Dinge, die uns wirklich wichtig sind. Das hat nichts mit "Harder, Better, Faster, Stronger" zu tun. Wir alle haben Dinge, die wir machen möchten, denen wir aber nicht nachgehen.
In einem Text haben Sie geschrieben, dass wir alle Segeltörns und Sabbaticals auf unseren "Hidden Lists" hätten, die wir gerne machen würden. Liegt es nur an unserem Handy, dass wir diese Dinge nicht tun?
Natürlich nicht. Das Grundproblem ist neokapitalistisch: Wir leben in einer individualisierten Gesellschaft, die darauf aufbaut, dass wir uns anderen gegenüber überlegen fühlen. Wenn wir kollektiver und solidarischer unterwegs wären, würden die sozialen Medien vielleicht gar nicht erst funktionieren. Und natürlich tut es weh, zu scheitern. Neues zu probieren und sich vielleicht auch mal verletzlich zeigen zu müssen. Das Digitale ist darauf ausgelegt, Prozesse zu vereinfachen und suggeriert uns Kontrolle. Das echte Leben hingegen ist nicht perfekt und immer kontrollierbar. Und genau deshalb schön und reizvoll.
Ist die Digitalisierung nicht auch ein Spiegel der Realität? Sie betont doch bloß, was in der Gesellschaft ohnehin schon gegeben war.
Richtig. Wenn wir es deshalb schaffen, über unser digitales Verhalten nachzudenken, kann uns das auch dazu anhalten, über Grundsätzliches nachzudenken: Was ist mir wirklich wichtig? Wofür will ich Zeit haben im Leben? Und auch: Wie wollen wir menschlich in digitalen Räumen miteinander umgehen? Welche Werte und Normen wollen wir etablieren?
Wir haben viel darüber gesprochen, was wir in unserem individuellen Alltag anpassen könnten. Gibt es auch institutionelle Ansätze, die digitale Achtsamkeit in der Gesellschaft fördern würden?
In Frankreich kann man seinen Arbeitgeber anzeigen, wenn er einen außerhalb der Arbeitszeit kontaktiert. Und bei BMW oder Daimler erhalten Angestellte nach Arbeitsschluss keine E-Mails mehr. Auf Englisch heißt das: "the right to disconnect", das Recht, sich abzugrenzen. Die Schweiz wird oft dafür kritisiert, dass sie so lange braucht, bis sie ein Gesetz verabschiedet hat – aber diese Dauer kann auch eine Chance sein, achtsame Digitalisierung zu etablieren.
Also innehalten statt mithalten. Aber in der Regel ist die Digitalisierung schneller als die Regulierung.
Bis beide gleichauf sind, liegt es an uns, einen Wertewandel anzustoßen. Ein Begriff, den ich diesbezüglich für mich geschaffen habe, ist "digital consent", digitales Einverständnis. Im Feminismus führen wir eine sehr sensibilisierte Debatte darüber, wie wir Grenzen des Gegenübers respektieren können. Im Digitalen sind wir noch nicht so weit: Arbeitskollegen, die uns nachts eine E-Mail schreiben; Freundinnen, die uns siebenminütige Sprachnachrichten schicken; Ex-Freunde, die Nacktfotos von uns ins Internet laden. Darum müssen wir uns selbst und auch gegenseitig fragen: Wie will ich kommunizieren? Wann will ich erreichbar sein? Und in welcher Form?
Es braucht also eine Debatte. Wie kreieren wir die?
Wie beim Klimawandel und dem Feminismus auch: Menschen müssen sich hinstellen und sagen: "Das stimmt für mich nicht." Viele von uns spüren den digitalen Stress im Alltag, aber sprechen es am Arbeitsplatz oder im Freundeskreis nicht an. Das muss sich ändern. Die Zeiten werden immer digitaler, wir haben aber jetzt die Chance, diese so zu gestalten, dass wir uns darin stressfrei bewegen können.