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Tod und Sterben: Wie eine Death Doula Bestattungen revolutionieren will

Charlotte Wiedemann arbeitet als sogenannte Death Doula, eine besondere Form der Sterbebegleitung, bei einem Bestattungsunternehmen.
Charlotte Wiedemann arbeitet als sogenannte Death Doula, eine besondere Form der Sterbebegleitung, bei einem Bestattungsunternehmen.bild: Gionatan Scipione / Social Attention
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Pilz-Särge und Papierurnen: Wie eine Death Doula Bestattungen revolutionieren will

07.07.2023, 15:46
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Triggerwarnung: In diesem Interview geht es um die Themen Tod und Bestattungen. Es könnte negative Erfahrungen oder Gefühle triggern.

Charlotte Wiedemann war schon immer vom Tod fasziniert – und hat ihn vor vier Jahren zu ihrem Beruf gemacht. Die 39-Jährige arbeitet als deutschlandweit erste Death Doula. Übersetzt bedeutet das so etwas wie "Todeshebamme", eine besondere Art Sterbebegleiterin. Angestellt ist sie bei einem Bestattungsunternehmen, das bundesweit vertreten ist.

Im Gespräch mit watson erzählt sie, wie sie sich in Bestattungsriten schockverliebt hat und was Pilz-Särge, Papierurnen und Tiktok mit ihrer Arbeit zu tun haben.

Watson: Charlotte, was steckt hinter dem Begriff Death Doula?

Charlotte Wiedemann: Der Begriff ist neu und etabliert sich langsam für ein großes Feld. Er macht sichtbar, was noch alles zum Sterben und zur Bestattung dazugehören kann. Dass es eben nicht nur bedeutet, am Bett einer sterbenden Person zu sitzen und die Hand zu halten. Als Death Doula kann ich Menschen über Jahre begleiten, kreative Workshops zum Thema Sterben und Tod geben oder auch medizinisch beraten. Ich möchte diese Themen als andauernde Unterhaltung in das Leben integrieren und nicht, dass man sich nur damit beschäftigt, wenn jemand im Sterben liegt.

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Du hast Psychologie studiert und als Kulturjournalistin in London und Paris gearbeitet. Wie kamst du darauf, ins Bestattungsgeschäft einzusteigen?

Als ich nach Berlin zog, habe ich gemerkt: Ich bin beruflich noch nicht am richtigen Ort. Tod, Sterben und Bestattungen haben mich aber schon immer fasziniert. Rituale, speziell Initiationsrituale und Übergangsrituale, die Idee von Lebensmarkern und altes Wissen fand ich schon immer spannend. Vor der Geburt meiner zweiten Tochter las ich ein Buch über Bestattungsriten und war wie schockverliebt. Ich sagte zu meinem Mann: Ich glaube, ich will in die Bestattung. Er hat komischerweise nicht gefragt, ob ich den Verstand verloren habe, sondern sagte: Das klingt gut. Die Erfahrung bei der Geburt meiner zweiten Tochter hat diesen Gedanken dann sehr bestärkt.

"Es wurde plötzlich sehr existentiell und ich habe gemerkt, wie seiden der Faden ist, an dem man hängt."

Was ist passiert?

Ich hatte einen sogenannten Wehensturm. Das bedeutet, dass es keine Pausen zwischen den Wehen mehr gibt – und das kann über etliche Stunden andauern. Dabei begann meine Plazenta abzureißen, und ich habe viel Blut verloren. Für Mutter und Kind ist das sehr gefährlich. Das Kind erreichen dann kein Sauerstoff und keine Nährstoffe mehr. Es wurde also plötzlich sehr existentiell und ich habe gemerkt, wie seiden der Faden ist, an dem man hängt. Da war es wichtig, welche Menschen in dieser Situation um mich herum waren.

Warum liegt dein Fokus auf dem Thema Bestattung, nicht auf der Sterbebegleitung?

Bestattungen werden in Deutschland nicht abgebildet, bis es so weit ist und man in einer absoluten Ausnahmesituation Dinge entscheiden muss. Bestattung ist ein Bereich, der bis vor Kurzem nahezu komplett von der kulturellen, ästhetischen Revolution verschont geblieben ist. Dabei gibt es wahnsinnig viel Spielraum. Es ist möglich, menschliche Körper zu kompostieren oder Verstorbene zu feiern, wie es am Tag der Toten in Mexiko gemacht wird. In Indonesien werden mumifizierte Tote in Feiern integriert, und in Japan gibt es einen Tempel, in dem Mönche per Zufallsgenerator entscheiden lassen, welche Toten jeweils an einem Tag gewürdigt werden. All das wird in unserer Kultur nicht repräsentiert. Ich habe Lust daran zu arbeiten, dass dieses Wissen und die kulturellen Einflüsse auch ihren Weg nach Deutschland findet.

Wie machst du das?

Bei der Ahorn-Gruppe beschäftige ich mich beispielsweise mit dem Thema nachhaltige Bestattungen. Wie können wir Neuheiten wie Pilz-Särge oder Papierurnen in unser Angebot integrieren? Gleiches gilt für digitale Angebote. Können wir virtuelle Erinnerungsräume schaffen, also beispielsweise Gedenkseiten, auf die die Leute wirklich Lust haben? Eine Kerze im echten Leben anzünden funktioniert, das ist emotional. Eine Kerze online anzuzünden, holt Menschen hingegen weniger ab.

In Tiktok-Videos schlüpft Charlotte in verschiedene Rollen – auch mal in die einer Leiche.
In Tiktok-Videos schlüpft Charlotte in verschiedene Rollen – auch mal in die einer Leiche. bild: Gionatan Scipione / Social Attention

Ich organisiere auch Veranstaltungen und Workshops, in denen es beispielsweise um Selbsterfahrung geht. Die finden dann zu einem Zeitpunkt statt, an dem das Sterben noch nicht akut ist. Eine praktische Übung in einem Workshop ist beispielsweise sich zu überlegen: Was würde ich machen, wenn ich nur noch ein Jahr, nur noch einen Monat, nur noch einen Tag zu leben hätte. Wenn man das aufgeschrieben hat, kann man sich fragen: Wie viel davon mache ich aktuell? Wovon sollte ich mehr machen? So kommt man weg von der reinen Todesthematik hin zur Frage: Was kann uns der Tod fürs weitere Leben beibringen?

Warum ist der Tod ein Thema, über das viele ungern sprechen?

Es geht um unsere ultimative Verletzlichkeit. Viele denken sehr ungern darüber nach, dass es mit ihnen mal zu Ende geht. Wir wollen als Menschen ja gern über allem stehen. Im Tod muss man sich eingestehen, dass man eben doch ein Teil der Natur ist und in dieser Angelegenheit nichts Besonderes. Niemand kann sich diesem Schicksal entziehen. Das ist eine Gleichmacherei, die uns eigentlich sehr fremd ist in dem Leben, das wir leben. Aber: Sterben wird oft als Tabuthema bezeichnet, wovon man, wie ich finde, nicht reden kann. Der Sterbereport 2022, den die Ahorn-Gruppe gemeinsam mit brand eins herausgegeben hat, zeigt: 80 Prozent der Befragten möchten mehr über den Tod sprechen. Es fehlen nur adäquate Angebote.

In TikTok-Videos auf dem Kanal „dertod_undwir“ erklärst du mit deinen Kolleg:innen Themen rund um den Tod. Wie kommt dieses Angebot an?

Auf TikTok stelle ich fest: Viele Leute machen sich über Sterben, Tod und Bestattung Gedanken – und zwar unabhängig von der Altersgruppe. Wir bekommen viele Reaktionen auf die Videos, mittlerweile folgen uns fast 200.000 Menschen. User und Userinnen wollen wissen, wie sie sich in der Bestattung ausbilden lassen können. Da fragen auch mal Eltern für ihre Kinder nach. Andere haben Fragen zur Vorsorge: Sie möchten gern eine Wikinger-Bestattung und wollen wissen, ob das möglich ist. Aber einige befragen mich auch zur Vorsorge ihrer Eltern. Eine halbe Million Kinder und Jugendliche in Deutschland pflegen ihre Eltern. Das heißt, dass eine große Gruppe schon in einem sehr jungen Alter damit konfrontiert ist, Bestattungen organisieren zu müssen.

Gehen junge Menschen anders mit dem Tod um?

Ihr Umgang ist definitiv unbefangener. Statistisch gesehen ist er ja auch noch weit weg. Im Alter wird man leider verkrampfter, weil man auch Angst bekommt. Denn bei allem positiven Umgang mit dem Tod, den ich mir wünsche, darf man natürlich nicht vergessen, wie krass das eigentlich ist, was beim Sterben passiert. In meiner Arbeit im Bestattungsunternehmen bin ich viel mit schlimmen Diagnosen und Fällen konfrontiert, bei denen es ganz schnell vorbei sein kann, auch für junge Menschen, für Kinder. Unsere Bestattungsunternehmen kümmern sich auch um Bahnsuizide, um Obdachlose, die ewig nicht gefunden wurden. Das gibt dir Demut, dass der Tod ganz schön scheiße sein kann und dass man das nicht beschönigen muss. Trotzdem kann die Vorbereitung auf den Tod schön, tief und berührend sein, und am Abschiednehmen selbst kann man viel verbessern.

Wo möchtest du in ein paar Jahren mit deiner Arbeit stehen?

Ich stelle mir einen Ort vor, an dem alles an Übergängen möglich ist. Ein Ort, an dem Kinder geboren und Menschen bestattet werden. An den man reisen kann, um Sterbende zu begleiten. Angehörige sollten dann vom Arbeitgeber die Zeit dafür bekommen. Radikal gesagt: An diesem Ort hätte ich gern irgendwann einen Gemüsegarten, der durch verstorbene Körper fruchtbar gemacht wird und das Essen für den Leichenschmaus liefert. Ich möchte größtmögliche Nachhaltigkeit und Zirkularität schaffen, wo wir als Menschen wieder in die Natur übergehen können und Trost daraus ziehen, das Land, in dem wir begraben werden, sogar besser zurücklassen, als es vorher war.

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