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Fall Luise: Wenn Kinder morden – welche Rolle die Familie dabei spielt

News Bilder des Tages Getoetetes Maedchen Luise *** NUR FUeR REDAKTIONELLE ZWECKE *** EDITORIAL USE ONLY ***<p>Getoetetes Maedchen Luise am 14.03.2022 in Freudenberg. Fundort der Leiche, Blumen  ...
Nur noch Blumen und Kerzen erinnern hier an die schreckliche Tat und den Fundort von Luise.Bild: IMAGO / Funke Foto Services
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Getötete Luise: Wie es passieren kann, dass Kinder zu Mördern werden

18.03.2023, 10:04
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Ein 12-jähriges Mädchen stirbt durch mehrere Messerstiche. Tatverdächtig: zwei Mädchen, selbst erst 12 und 13 Jahre alt.

Ein 14-jähriger Junge wird nur wenige Hundert Meter von seinem Elternhaus mit einem Stein erschlagen. Tatverdächtig: sein gleichaltriger Freund.

Zwei Fälle, in denen Kinder anderen Kindern das Leben genommen haben. Doch wie werden sie zu Mördern?

Watson hat mit Jan Oude-Aost gesprochen. Er ist Kinder- und Jugendpsychiater und erklärt, wie es passieren kann, dass in einem so jungen Alter so furchtbare Taten begangen werden können.

Jan Oude-Aost
Kinder- und Jugendpsychiater Jan Oude-Aost erklärt, warum auch Kinder zu Mördern werden können.Bild: privat

Watson: Schlimm genug, wenn ein Mord von einem Erwachsenen begangen wird – aber wenn ein Kind der:die Täter:in ist, hat man das Gefühl, das Weltbild der Gesellschaft wird völlig erschüttert. Warum ist das so?

Jan Oude-Aost: Weil das erschütternd ist. Das ist eine angemessene Reaktion, damit umzugehen, wenn Kinder andere Kinder umbringen. Die Frage ist, was mache ich aus dieser Emotion? Fordere ich eine besonders harte Bestrafung oder gar schärfere Gesetze? Da beginnt es dann, problematisch zu werden.

Sollte das Jugendstrafrecht Ihrer Meinung nach verschärft werden?

Die Frage ist, was wollen wir jungen Menschen beibringen? Sollen sie sich angemessen verhalten, weil sie sonst hart bestraft werden? Oder sollen sie sich angemessen verhalten, weil sie verstehen, warum sie sich so verhalten sollen? Das sind zwei fundamental unterschiedliche Ansätze. Solche Taten sind extrem selten, eine Gesetzesverschärfung würde keine Tat verhindern. Deswegen bin ich eher nicht dafür.

"Die meisten Kinder haben bis zu einem Alter von zehn Jahren noch kein Todeskonzept."

Ist man in dem Alter überhaupt fähig, die Tragweite seiner Taten zu verstehen?

Der Gesetzgeber sagt, ab 14 Jahren ist man strafmündig. Das heißt, grundsätzlich kann man ab da die Tragweite erfassen. Der Kinder- und Jugendpsychiater sagt aber, es kommt eher aufs Entwicklungsalter an. Es gibt Jugendliche, die sind mit 14 schon so reif, wie andere mit 18, und es gibt andere, die sind mit 14 so reif wie andere mit acht. Es kommt auf den Einzelfall an.

Kinder unter 14 sind in Deutschland gar nicht strafmündig. Aber sind sie es dann auch im psychologischen Sinne nicht?

Hier stellt sich eher die Frage, ab wann wir es als Gesellschaft einem Menschen zumuten, die Verantwortung für sein Handeln vollständig zu übernehmen? Und da haben wir uns entschieden, dass wir das erst ab dem 14. Lebensjahr machen. Das bedeutet vor allem, dass man davor einen besonderen Schutzstatus als Kind hat. Und das ergibt auch Sinn, weil man als Kind eben bestimmte Dinge noch nicht versteht.

Dinge wie Mord und den Tod?

Ja, die meisten Kinder haben bis zu einem Alter von zehn Jahren noch kein Todeskonzept. Sie wissen, da ist jemand weg, aber so richtig verstehen sie das nicht. Und wenn jemand mit 13 noch nicht so richtig entwickelt ist, dann ist es durchaus möglich, dass der oder diejenige auch kein Todeskonzept hat. Klar, die meisten Kinder wissen schon, dass man keine Leute töten sollte, aber wie schwer diese Handlung eigentlich ist, das muss man auch in diesem Alter noch nicht unbedingt verstehen.

Ist es eher eine subjektive Wahrnehmung, dass Kinder heutzutage gewaltbereiter sind?

Grundsätzlich sehen wir, dass Jugendliche heute sozial kompetenter sind und weniger Gewalt anwenden. Was aber natürlich nicht bedeutet, dass es immer so ist. Es kommt darauf an, wie man gelernt hat, mit Problemen umzugehen. Wenn ich gelernt habe, dass ich dafür Gewalt anwenden kann, dann mache ich das auch mit einer höheren Wahrscheinlichkeit.

"Jugendliche, die eine solche Tat begehen, müssen nicht psychopathisch sein."

Also sind die Eltern schuld? Oder inwiefern spielt da die Kindheit und die eigene Familie eine Rolle?

Wahrscheinlich spielt sie da eine ziemlich große Rolle. Wenn ich als Kind misshandelt wurde und Gewalt erlebt habe, sorgt das dafür, dass ich mit meinen unangenehmen Emotionen deutlich schlechter umgehen kann. Dann habe ich gelernt, dass es mir besser geht, wenn ich jemanden schlage oder ihm Gewalt antue. Dazu kommt, dass Kinder, die misshandelt wurden, auch eher impulsiv reagieren. Diese Kombination sorgt für ein höheres Risiko für eine Gewalttat. Das soll die Tat nicht entschuldigen, aber etwas erklären.

Sind Menschen, die so jung töten, auch automatisch Psychopathen?

Psychopathische Eigenschaften können bei Jugendlichen ab dem 14. Lebensjahr gemessen werden. Es gibt bei Kindern und Jugendlichen aber auch einige Faktoren, die eine aggressive Tat begünstigen können, die nichts mit Psychopathie zu tun haben. Beispielsweise das gesteigerte Weitergeben selbst erlebter Gewalterfahrungen, starke Defizite in der Impulskontrolle oder gruppendynamische Prozesse, bei denen sich Personen gegenseitig in etwas hineinsteigern, was jede einzelne Person alleine nicht getan hätte. Jugendliche, die eine solche Tat begehen, müssen also nicht psychopathisch sein.

Was macht denn einen Psychopathen überhaupt aus?

Psychopathie beschreibt eine Mischung von Risikoeigenschaften, die die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass ein Mensch sich unsozial verhält. Das kann sich in Straftaten, aber auch in anderen Verhaltensweisen ausdrücken. Menschen mit einem erhöhten Psychopathiewert haben eine Verminderung in den Gefühlsdimensionen Angst, Mitgefühl und Schuldgefühl. Gleichzeitig wollen sie Bedürfnisse unmittelbar befriedigen, sind impulsiv und langweilen sich unter anderem schnell. Allerdings sind die meisten Menschen, die in Gefängnissen sitzen, nicht psychopathisch. Auch viele Tötungsdelikte werden nicht von stark psychopathischen Menschen begangen.

Kann man Anzeichen schon in der Kindheit oder Jugend beobachten?

Erwachsene, die als Psychopathen gelten, zeigten oft als Kinder schon ein auffälliges Verhalten. Aber nicht alle Kinder, die auffällige Verhaltenszüge zeigen, werden am Ende auch Psychopathen.

Das heißt, man kann bei Kindern frühzeitig eingreifen und behandeln?

Kann man. Das ist allerdings sehr herausfordernd. Es gibt Programme für Jugendliche mit Störungen des Sozialverhaltens. Das setzt aber viel Kompetenz aufseiten der Eltern und der Therapeuten voraus. Und oft ist es so, dass Jugendliche mit dieser Störung aus Familien kommen, in denen die erzieherische Kompetenz nicht sehr hoch ist. Sie muss gar nicht schlecht sein, aber eben nicht so, dass dann schnell mit harter Reglementierung gearbeitet wird.

Im Bereich des Fundortes der ermordeten Luise F. aus Freudenberg fanden durch Polizeieinsatzkraefte Polizeieinsatzkräfte Suchmassnahmen nach der Tatwaffe statt. Es kamen u.a. Metalldetektoren zum Eins ...
Ermittler suchen nach der Tatwaffe, mit der Luise getötet wurde.Bild: IMAGO/Rene Traut

Wie verhalten sich Eltern, wenn das eigene Kind einen Mord begangen hat?

Das hängt wahrscheinlich vor allem von der Persönlichkeit der Eltern und der Beziehung mit dem Kind vorher ab. Man kann einerseits sagen: Mein armes Kind ist von dem anderen so provoziert worden, dass ihm nichts anderes übrig blieb, als es zu töten. Und man kann sagen: Mein Kind ist ein Monster, zu dem will ich keinen Kontakt mehr haben. Beide Extreme wären nicht hilfreich.

Sondern?

Glücklicherweise haben viele Menschen die Möglichkeit, einen angemessenen Umgang auch mit einer derartig emotional belastenden und extrem schwierigen Situation zu finden. Sie können lernen, ihr Kind dabei zu unterstützen, Verantwortung zu übernehmen und sich prosozial weiterzuentwickeln. Letztendlich hängt es aber von den Fähigkeiten und auch der Bereitschaft der Eltern ab, wie sie damit umgehen.

Glauben Sie, dass viele Familien sich nicht genügend Hilfe holen?

Ich habe nicht das Gefühl, dass die Leute sich zu wenig Hilfe suchen. Es ist eher so, dass die Hilfe nicht unbedingt schnell genug vorhanden ist.

Wie könnte man auf das Problem reagieren?

Man sollte sich nicht nur auf Therapeuten versteifen, auch die Jugendhilfe hat einen sehr großen Anteil daran. Da geht es mehr um die Stützung von Normalem und nicht die Veränderung von Krankem und da machen die Jugendämter sehr gute Arbeit.

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Swen ist Chefredakteur von watson. Er findet seinen Job so gut, dass er auch noch eine Kolumne über ihn schreibt. Hier berichtet er von schönen, traurigen und kuriosen Erlebnissen.

Die meisten Beobachtungen und Erlebnisse in meiner Kolumne sind anonymisiert. Du liest schließlich watson und schaust nicht Reality-TV.

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