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Schock-Videos aus Griechenland beweisen brutale illegale Pushbacks

Videoaufnahmen zeigen, wie die griechische Küstenwache Geflüchtete auf dem Meer aussetzt.
Videoaufnahmen zeigen, wie die griechische Küstenwache Geflüchtete auf dem Meer aussetzt.Bild: Youtube
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Schock-Videos aus Griechenland beweisen brutale Pushbacks: "Nehmen Tod der Menschen in Kauf"

01.06.2023, 19:2202.06.2023, 12:36
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Menschen auf der Flucht treffen auf ihrem Weg nach Europa auf viele Gefahren. Dass sie direkt nach ihrer Ankunft in der vermeintlich sicheren EU gegen ihren Willen abtransportiert und später wieder auf dem offenen Meer ausgesetzt werden, ist für sie unvorstellbar.

Sogenannte "Pushbacks" sind illegal. Sie widersprechen allen internationalen und europäischen Gesetzen zum Asylrecht. Solche Zurückweisungen von Flüchtenden sollen an den EU-Außengrenzen in den vergangenen Jahren mindestens hundertfach geschehen sein. Nun jedoch wurden sie auf der griechischen Insel Lesbos gefilmt.

In einem Video ist zu sehen, wie Männer, Frauen und Kleinkinder in einen Van gesperrt werden. Anschließend werden sie auf ein Boot der Küstenwache verfrachtet, aufs offene Meer gefahren und dort in einem Schlauchboot ohne Motor oder Trinkwasser ausgesetzt.

Von Männern, die keine Uniform tragen und sich auch nicht ausweisen. Von denen man daher annehmen muss, dass sie nicht offiziell für den Staat arbeiten. Aber in dessen Auftrag.

©2023 the new york times / fayad mulla

Dieses Mal hatten die zwölf Menschen an Bord Glück – sie wurden von der türkischen Küstenwache gerettet.

Transparenzhinweis: Die Aufnahmen wurden von der "New York Times" einem Faktencheck unterzogen und anschließend veröffentlicht. Die Zeitung hat watson die Videos, die in diesen Text eingebunden sind, freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Der Mann hinter den Aufnahmen ist Fayad Mulla. Er ist ein österreichischer Journalist, Politiker und Entwicklungshelfer. Im Interview mit watson erzählt Mulla, der drei Jahre lang mit einer Hilfsorganisation auf Griechenland war, von seinem riskanten Einsatz.

Fayad Mulla war auch Entwicklungshelfer im Nordirak und ist Vorsitzender der österreichischen Partei Wandel.
Fayad Mulla war auch Entwicklungshelfer im Nordirak und ist Vorsitzender der österreichischen Partei Wandel.bild: harold naaijer

Watson: Herr Mulla, was macht es mit einem, so eine Deportation zu filmen, aber nicht helfen zu dürfen?

Fayad Mulla: Wenn man sich diese Aufnahmen genauer anschaut, wie die mit den Leuten umgehen, wie sie die Kinder tragen und die Frauen über das Boot schubsen: Das ist natürlich übel und man ist extrem sauer, dass das in der EU passiert. Durch Exekutivbeamte, die eigentlich dafür da sind, den Rechtsstaat einzuhalten. Ich hätte aber vor Ort gar nichts machen können. Normalerweise ruft man die Polizei an, wenn man ein Verbrechen sieht. Die braucht man aber nicht anrufen, die ist vor Ort und begeht das Verbrechen. Insofern war das Aufzeichnen und das Veröffentlichen die einzige Option.

"Ich habe diese Entführungen und Deportationen (...) unzählige Male gesehen."

Klingt heftig.

In den letzten eineinhalb Jahren war ich bei Dutzenden Landings und habe hunderten Menschen geholfen, dass sie nicht entführt werden und sie zu ihrem Recht kommen, um einen Asylantrag zu stellen. Aber mir war klar, dass ich nicht überall vor Ort sein kann; und ich glaube, dass es systemische Veränderungen braucht. Man muss das Problem an der Wurzel angehen. Ich hoffe, dass ich mit dieser Aufdeckung einen Beitrag leiste.

Hatten Sie Angst, beim Filmen entdeckt zu werden?

Man hat schon den Hintergedanken: Wenn sie mich dort entdecken sollten, habe ich ein gewaltiges Problem. Man hat mit Leuten zu tun, die Schwerstverbrechen begehen und den Tod der Menschen in Kauf nehmen. Da bleibt es möglicherweise nicht beim korrupten Rechtsstaat.

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Wie lange haben Sie versucht, diese Verstöße nachzuweisen, bis Sie etwas filmen konnten?

Am Anfang meiner Zeit in Griechenland ging es eher um die Katastrophen- und humanitäre Hilfe. Erst seit eineinhalb Jahren bin ich zu den Ankünften von Geflüchteten gegangen. Ich hatte immer wieder Gerüchte gehört und diese Entführungen und Deportationen relativ schnell und unzählige Male gesehen, bis ich es ultimativ festhalten konnte.

Auf dem Bild ist zu sehen, wie die Geflüchteten an Bord der Küstenwache kommen.
Auf dem Bild ist zu sehen, wie die Geflüchteten an Bord der Küstenwache kommen.bild: screenshot / ©2023 the new york times / fayad mulla

Warum hat es erst jetzt geklappt, die Deportationen zu filmen?

Man weiß nicht, wo die Leute ankommen und wo sie sich verstecken. Das ist wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Es hat lange Zeit gedauert, um herauszufinden: Wer sind diese Verbrecher? Welche Autos benutzen sie? Wie sind die organisiert und wie arbeiten sie mit der Polizei zusammen? Und natürlich: Wo begehen sie diese Deportationen?

"Die machen sich nicht mal die Mühe, die Beweise zu vernichten."

Haben Sie einen Tipp bekommen?

Nein. Diese Schweine halten bedingungslos zusammen und decken ihre Verbrechen. Das ist ja bei Exekutiveinheiten, nicht nur bei der Polizei, sondern auch bei der Küstenwache und dem Grenzschutz weltweit so. Und das war in Griechenland auch so. Die Leute gehen zur Küstenwache und bekommen den Auftrag, die Küste und die Grenze zu bewachen und vor allem auch Leuten zu helfen, wenn sie in Seenot sind.

Und dann?

Irgendwann sagt dein Vorgesetzter: 'Jetzt ist deine neue Aufgabe, dass du Frauen und Männer, kleine Kinder und Babys in Seenot bringen musst. Die schmeißt du auf Rettungsinseln und fährst weg.' Niemand ist aufgestanden, weder anonym noch mit Namen, und hat das gemeldet.

Bekommen die Menschen wenigstens Wasser oder dergleichen, bevor sie ausgesetzt werden?

Das habe ich noch nie gehört. Ich habe mir auch sehr viele Videos von der türkischen Küstenwache angeschaut. Da habe ich dergleichen noch nie gesehen. Den Leuten werden auch immer all ihre Habseligkeiten abgenommen. Auf Lesbos war ich an unzähligen Tatorten: Da liegen dann die Rucksäcke von den Leuten, Essen, Windeln, Wasser, auch Ausweise. Dazwischen liegen auch die Einweghandschuhe der Entführer. Die machen sich nicht mal die Mühe, die Beweise zu vernichten.

©2023 the new york times / fayad mulla

Wissen Sie etwas über die Identität dieser Männer?

Die sind komplett vermummt. Sie tragen keine Uniform, aber paramilitärische Kleidung. Es sind nur Griechen. Sie arbeiten sehr eng mit der griechischen Küstenwache zusammen. Auch beim Aufspüren der Menschen arbeiten sie mit der Hellenic Costguard zusammen. Die kommen mit einem Pick-up mit Wärmebilddrohne, um die Leute zu finden und geben dann die Location an die Entführer weiter. Auch die Polizei arbeitet eng mit den Entführern zusammen.

Welche Rolle spielt die Polizei dort?

Wenn zum Beispiel die Ärzte ohne Grenzen in Richtung der Ankünfte von Geflüchteten fährt, sind immer auf diesen Strecken Polizisten am Straßenrand und halten sie auf. Oft werden sie ein, zwei Stunden festgehalten und überprüft. Danach finden sie oft nur noch einen Teil der Leute oder nur noch die Habseligkeiten. Die Polizei ist bei diesen Verbrechen dabei, das wäre auch gar nicht anders möglich. So blind kann man gar nicht sein, dass man das nicht mitbekommt.

Wie meinen Sie das?

Ich habe auch zu Frontex (Anm.d.Red.: Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache) gesagt: Es ist wirklich eine gewaltige Leistung, dass sie es schaffen, ausnahmslos bei jedem dieser Verbrechen nicht vor Ort zu sein. Denn sie sind genau in diesen Gegenden tagtäglich mit ihren fancy Autos, super Equipment und Überwachungsmaterial unterwegs, aber nie genau dort, wo gerade etwas passiert.

Griechenland macht schon wieder weiter mit den illegalen Deportationen. Hatten Sie damit gerechnet, dass so etwas passiert?

Dass sie wieder damit anfangen, während noch die Untersuchung läuft, damit hätte nicht gerechnet. Dass diese Aufnahmen unsere Welt nicht verändern, war mir schon klar. Kein einziger Staatschef, keine einzig:e Innen- oder Justizminister:in in Europa hat nach dem Material gesagt: "Jetzt ist es genug." Niemand. Auf politischer Ebene scheint es allen egal zu sein. Aber dass wir schon so weit sind, dass man als EU-Land solche Schwerstverbrechen begehen kann, ist krass. Wir lernen bei jedem neuen Skandal, dass sich die Grenze des Machbaren immer weiter verschiebt.

Werden Sie trotzdem weitermachen?

Von der Politik erwarte ich mir gar nichts. Und die Entwicklungen in den zehn Tagen seit der Veröffentlichung haben auch bewiesen, dass diese Erwartung gerechtfertigt ist. So hat die EU-Kommission Griechenland zur Untersuchung der Vorwürfe aufgefordert. Wer fordert den Täter auf, seine eigenen Verbrechen zu untersuchen? Der Rechtsstaat funktioniert aber in vielen Bereichen noch und vor allem auf Verwaltungsebene sitzen einige Leute, die noch Verstand und Herz haben und sich an Gesetze halten.

"Ich hoffe, dass Leute vielleicht auch gerichtlich gegen das vorgehen, was ihnen angetan wurde."

Was heißt das konkret?

Ich verspreche mir schon, dass sich noch etwas tut. Deswegen habe ich auch Sachverhaltsdarstellung beim Europäischen Amt für Betrugsbekämpfung und bei der europäischen Staatsanwaltschaft eingebracht und unterstütze die Untersuchung des Grundrechtsbüros innerhalb von Frontex. Ich hoffe, dass sich andere Leute trauen, darüber zu reden. Zum Beispiel bei Ärzte ohne Grenzen und vielleicht auch Geflüchtete, denen das widerfahren ist. Ich hoffe, dass Leute vielleicht auch gerichtlich gegen das vorgehen, was ihnen angetan wurde.

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