Wenn Juden und Jüdinnen in Deutschland Opfer von Antisemitismus waren, haben wir darüber berichtet und wollten mit der jüdischen Community sprechen. Oft bekamen wir dabei zu hören: "Warum interessiert ihr euch immer nur für uns, wenn etwas passiert ist?" Das haben wir uns zu Herzen genommen und wollen deshalb genauer hinsehen. In mehreren Artikeln wollen wir uns mit der Frage beschäftigen: Wie sieht es aus, das junge, jüdische und auch politische Leben in Deutschland?
Den Anfang machen die jüdischen Autoren Monty Ott und Ruben Gerczikow, die gerade ihr Buch "Wir lassen uns nicht unterkriegen: Junge, jüdische Politik in Deutschland" (Verlag Hentrich & Hentrich) über jüdisches Engagement in verschiedenen Organisationen verfasst haben.
Mit watson sprechen sie über ihren Aktivismus, jüdische Identität und was sie sich von der deutschen Gesellschaft wünschen.
Watson: 2021 war das Jahr mit einer Rekordzahl an antisemitischen Vorfällen in Deutschland, es gab über 2700 Übergriffe. Haben eure Eltern Angst um euch?
Ruben Gerczikow: Als ich damals von der jüdischen Grundschule auf die staatliche Schule gewechselt bin, hat meine Mutter mir gesagt, ich solle nicht direkt öffentlich sagen, dass ich jüdisch bin. Für mich war aber klar, dass ich darüber spreche. Ich wollte mich nicht verstecken für das, was ich bin. Als jüdische Person in der Öffentlichkeit zu stehen, ist, als ob man ein Fadenkreuz auf der Stirn hat in Deutschland. Und das habe ich aus einer Vielzahl von (Mord-)Drohungen auch am eigenen Leib erfahren. Von daher ist es immer eine Gefahr.
Wie gefährlich ist es heutzutage in Deutschland, öffentlich als Jude aufzutreten?
Monty Ott: Sichtbarkeit ist immer Segen und Fluch zugleich. Jüdisches Leben und jüdische Pluralität haben mehr Sichtbarkeit bekommen, das ist eine gute Entwicklung. Aber der Antisemitismus wird zunehmend offener und auch gewalttätiger. Bei überzeugten Antisemit*innen handelt es sich aber um Minderheiten. Was mich frustriert, ist die große, indifferente Masse an Menschen, die vielleicht das Herz am rechten Fleck hat, sich aber nicht genug mit Antisemitismus auseinandersetzt. Es würde mich beruhigen, wenn die Masse an Menschen, die konsequent etwas dagegen tun will, größer wäre.
Ruben: Die Frage ist auch: Hat der Antisemitismus zugenommen? Oder ist er sichtbarer geworden, weil wir mehr darüber reden? Laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung aus dem letzten Jahr wollen 49 Prozent der Deutschen einen Schlussstrich unter die NS-Geschichte machen. Das ist eine Sache, die mich besorgt. Dieses Ignorieren der sogenannten Mitte der Gesellschaft, die sich aktiv dagegen entscheiden möchte, etwas gegen Antisemitismus und für eine lebendige Erinnerungskultur zu machen, weil sie es als Belastung empfindet. Dieser eliminatorische Antisemitismus ist nichts Neues. Aber dieses offensive Schweigen, das kann in vielen Situationen mehr wehtun, als uns lieb ist.
Monty: Wir leben in einer Gesellschaft, die strukturell durch den Antisemitismus in ihrer Kultur geprägt ist. Dementsprechend ist es unsere Aufgabe, uns damit auseinanderzusetzen. Selbstbekenntnisse auf Twitter nach einem Anschlag frustrieren mich ähnlich, wie Bundestags- oder TV-Debatten, wo sich alle einig sind, dass das ganz schlecht ist. Aber es muss daraus etwas folgen. Dafür muss man etwas tun. Wenn man die eigene Unvollkommenheit voraussetzt, Betroffenen zuhört und versucht, gemeinsam etwas aufzubauen – ich glaube, dann können wir echt was bewegen.
Viele jüdisch-politische Vereine wurden erst in den letzten Jahren gegründet. Warum erst jetzt?
Monty: Zentral dafür, dass es heute eine Vielfalt jüdischer Organisationen gibt, ist die Zuwanderung von Jüdinnen*Juden aus den ehemaligen Staaten der Sowjetunion zwischen 1991 und 2005. Diese stellen jüdisches Leben in Deutschland heute in der überwiegenden Mehrheit dar. Viele dieser Menschen mussten erst mal ihren Lebensunterhalt bestreiten und der deutsche Staat hat ihnen da viele Steine in den Weg gelegt. So ist es jetzt die zweite Generation, die sich mit Fragen von Identität oder Aktivismus beschäftigen kann. Das ist der Grund für diese Dynamik in den vergangenen zehn bis zwölf Jahren.
Ruben: Es gab jahrelang keinen koordinierten Bundesverband jüdischer Studierender, weil der BJSD (Bundesverband Jüdischer Studenten in Deutschland), der eigentlich diese Funktion innehatte, eingeschlafen ist. Die Gründung der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands (JSUD) war der Startpunkt für viele kleinere Organisationen, sich zu gründen – auch der queer-jüdische Verein Keshet Deutschland hat hier einen Teil seiner Wurzeln
Monty: Auch die Gründung des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks war bedeutsam. Dort hat die Förderung von jungen Jüdinnen*Juden neue Denkräume eröffnet: Möglichkeiten, die Identität und vor allen Dingen jüdisches Leben zu erkunden, das außerhalb von Gemeinden stattfindet.
Bezieht sich das auch auf queeres jüdisches Leben?
Monty: Es gab zwölf Jahre eine Leerstelle bei dem Thema LGBTIQ-Repräsentation. Viele queere Jüdinnen*Juden haben außerhalb der Gemeinden nach Repräsentation gesucht, nach einem Raum für queeres Jüdischsein. Wir haben es bei Keshet Deutschland geschafft, innerhalb des ersten Jahres hundert Mitglieder zu gewinnen und mit allen großen jüdischen Institutionen zusammenzuarbeiten. Das zeigt, dass sich auch die Wahrnehmung des Themas Queerness in der jüdischen Community grundlegend, aber noch nicht abschließend, verändert hat.
Ruben: Was noch wichtig zu erwähnen ist, dass es ein stärkeres Selbstbewusstsein gibt. Viele junge Juden und Jüdinnen in den letzten Jahren haben sich dazu befähigt gefühlt, diesen Schritt in die Öffentlichkeit zu gehen und sich zu politisieren.
Wie verändern solche, gerade queere Vereine, das jüdische Leben nach innen?
Monty: Bei der Erkundung dessen, welchen Platz Queerness in der Religion hat, geht es mir nicht darum, Sachen aus der Tora abzustreiten, sondern darum, mit der jüdischen Tradition zu ringen, aufzuzeigen, dass diese queere Dynamik immer ein Teil jüdischer Tradition und jüdischen Lebens gewesen ist. Das hat mir auch dabei geholfen, mein Queer- und Jüdischsein nicht als Widerspruch zu empfinden. Wenn wir auf die queer-jüdische Geschichte in Deutschland schauen, sehen wir, dass es ein sehr langes Band gegeben hat, das zerschnitten wurde.
Das Christentum ist gerade in einer großen Krise. Nur noch 51 Prozent der Deutschen sind in der Kirche. Wie sieht es da beim Judentum aus?
Monty: Hier gibt es gerade große Entwicklungen. Statistisch nehmen Gemeindemitgliedschaften zwar etwas ab, gleichzeitig verändern sich die Gemeinden aber auch. Doch muss man deutlich sagen: Nicht jede*r Jüdin*Jude, die in einer Gemeinde Mitglied ist oder eine Synagoge zum Shabbat besucht, identifiziert sich als "gläubig" und genauso ist nicht jeder jüdische Mensch, der nicht in einer Gemeinde organisiert ist, unreligiös. Heute gibt es viel mehr Sichtbarkeit auch für das jüdische Leben außerhalb der Gemeindestrukturen.
Wie reagieren die Menschen darauf, wenn sie mitbekommen, dass ihr jüdisch seid?
Ruben: Dadurch, dass ich mit meinem Judentum sehr offen umgehe, komme ich häufig in die Situation und stelle immer wieder eine überraschte, aber interessierte Neugier fest.
Monty: Es gibt nach unterschiedlichen Schätzungen gerade mal zwischen 100.000 und 200.000 Jüdinnen*Juden in Deutschland. Insofern verwundert es nicht, wenn Leute erst einmal nicht damit rechnen, auf eine jüdische Person zu treffen. Es kommt allerdings immer etwas auf den Kontext an. Da reichen Reaktionen von verkrampften Umgang über latent antisemitische Äußerungen bis hin zu der von Ruben angesprochenen Neugier.
Was bedeutet es für dich denn, jung, jüdisch und politisch zu sein?
Ruben: Diese Kombination aus diesen drei Wörtern klingt für manche vielleicht abenteuerlich, ist für mich aber ganz normaler Alltag.
Monty: Ich habe mich immer als politisches Wesen verstanden. Und heute empfinde ich aus meinem persönlichen Jüdischsein heraus einen Auftrag, mich politisch einzubringen und die Welt ein kleines bisschen besser zu machen.