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Düstere Corona-Prognosen: Inzidenz von über 400 bis Ende November

Die bundesweiten Corona-Inzidenzen erreichen jeden Tag neue Höchstwerte.
Die bundesweiten Corona-Inzidenzen erreichen jeden Tag neue Höchstwerte. Bild: iStockphoto / Drazen Zigic
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"Es ist wie bei Titanic: Die Kapelle spielt noch mal auf und wir warten auf den großen Knall": Thorsten Lehr, renommierter Datenmodellierer, stellt düstere Corona-Prognose bereits für Ende November auf

10.11.2021, 16:4111.11.2021, 07:43
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Es ist erst Anfang November, doch mit Blick auf die täglich neuen Inzidenz-Rekorde, fragen sich die ersten Menschen: Kann ich Weihnachten dieses Jahr überhaupt mit der Familie feiern? Im Internet kursieren währenddessen unheilvolle "Doomsday-Szenarien". Dort ist die Rede ist von 10.000 Intensivpatienten an Weihnachten im optimistischsten Fall und von Hunderttausenden Toten bis Ende Januar im schlimmsten Fall.

Sind diese Szenarien bloße Panikmache oder müssen wir uns bereits jetzt für einen neuen, harten Winter rüsten? Watson hat mit dem Professor für Klinische Pharmazie an der Universität Saarland, Thorsten Lehr, gesprochen. Er hat ein Prognosetool für den Verlauf der Corona-Pandemie entwickelt.

Datenmodellierer Thorsten Lehr
Datenmodellierer Thorsten Lehr Bild: twitter /@lehr_thorsten

watson: Herr Lehr, wie zuverlässig ist Ihr Prognosetool für die Entwicklung der Pandemie?

Thorsten Lehr: Es ist keine Glaskugel, die die Zukunft vorhersagt, sondern man kann damit Szenarien generieren. Und man kann sich zum Beispiel die Frage stellen: Was passiert im Pandemiegeschehen, wenn es so weitergeht wie bisher? Unser Modell ist keine Wettervorhersage für die nächsten drei Tage, weil an der können wir nichts ändern. Aber wir können am Verlauf der Pandemie noch etwas ändern. Das unterscheidet uns natürlich von klassischen Zukunftsprognosen oder Szenarien.

Wir können also unsere Prognose selbst verändern?

Was uns in der Vergangenheit oft passiert ist: Wir sagen, "Leute, die Infektionszahlen steigen gerade sehr stark an, ihr müsst was machen. Ansonsten sieht es in vier Wochen, sechs Wochen oder acht Wochen so aus." Und dann hat die Politik gesagt: "Aha, das sieht nicht gut aus, wir brauchen einen Lockdown." Also kam ein Lockdown und deshalb sind die Zahlen natürlich nicht so angestiegen, wie wir es prognostiziert haben – weil irgendjemand etwas gemacht hat. Aber da hieß es retrospektiv immer, eure Modelle waren nicht richtig. Da sind viele, viele Drehschrauben, wo man nicht genau weiß, was passieren wird. Der Faktor Mensch ist und bleibt einfach unberechenbar.

Wie funktioniert Ihr Prognosetool denn genau?

Das ist ein mathematisches Modell, das versucht, alle Informationen des Infektionsgeschehens, also die ganze Pandemie, in Formeln und Gleichungen zu packen. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen mystisch, aber das ist relativ gängiges Vorhergehen. Das Modell beinhaltet die Faktoren, wie viele Infektionen es gibt, aber auch die Frage, was mit denen, die sich infiziert haben, passiert. Wie viele davon gehen ins Krankenhaus? Wie viele müssen auf der Intensivstation beatmet werden? Wie viele versterben und wie viele überleben? Damit kann man voran blickend Prognosen machen. Wie geht es weiter, beziehungsweise was müssten wir dann eigentlich machen, damit zum Beispiel damit die Intensivstation nicht überlaufen. Wann müssen wir entsprechend intervenieren? Das machen wir seit März letzten Jahres. Wir stellen einmal wöchentlich eine Aktualisierung und stellen auch eine Art Online-Simulator zur Verfügung, mit dem jeder dann auch sein eigenes Szenario generieren kann.

Auf welcher Datengrundlage arbeiten Sie? Nehmen Sie die Zahlen des Robert-Koch-Instituts (RKI)?

Da sind zum einen natürlich RKI-Daten, aber teilweise auch ein paar von Zeitungen, deren Recherchen ja teilweise sehr akribisch sind. Wir haben aber auch Informationen von Ministerien oder aus Pressemitteilungen. Wir müssen das aus ganz viele Stellen zusammensuchen, weil einfach ein ordentliches Datenrepositorium in Deutschland fehlt. Im Rahmen des Föderalismus ist jedes Bundesland einzeln verantwortlich und jeder hat eine eigene Vorstellung davon, wie etwas berichtet wird. Wenn man mal von RKI und DIVI Daten absieht, muss man sich viele Daten selbst zusammensuchen.

Erheben Sie auch eigene Daten?

Unser Vorteil ist: Wir haben ein relativ großes Informations-Portal an Covid-Patienten über ein Krankenhaus Abrechnungssystem. Natürlich mit Datenschutz, also anonymisierte Daten und TÜV-Sigel. So wissen wir von knapp zehn Prozent der im Krankenhaus befindlichen Covid-Patienten, was mit ihnen passiert ist. Also wie lange lagen die im Krankenhaus? Wie viele davon sind verstorben? Wie lange mussten sie beatmet werden? Da können wir sehr viele Informationen für unsere Modell rausziehen. Denn 10 Prozent klingt vielleicht nicht viel, aber das ist es. Man kann aus diesen Modellen rückblickend auch lernen und Erfahrungen und Rückschlüsse ziehen, aus dem was man gesehen hat.

Und wie besorgniserregend ist die aktuelle Situation? Sie sprachen öffentlich von einer bundesweiten Inzidenz von über 400 gegen Ende des Monats...

Genau. Ende des Monats kann die bundesweite Inzidenz bei über 400 liegen. Und es kann passieren, dass wir gegen Ende des Monats auch wieder die 4.000 Bettenbelegung erreichen. Das hängt ein bisschen davon ab, wie die Entwicklung ist und wie viele Leute sterben werden. Aber in diesem Bereich zwischen dreieinhalb und vier, können wir auf dem Intensivstationen Ende des Monats schon landen. Das kann schon kritisch werden.

Ab wann wird es denn kritisch für die Kapazitäten der Krankenhäuser?

Das wird ja immer wieder gefragt, aber das lässt sich tatsächlich nicht so einfach sagen. Wir sehen im Moment schon, dass die Pandemie nicht ganz gleich verteilt ist in Deutschland. Gewisse Standorte sind deutlich mehr betroffen sind, zum Beispiel Sachsen, Thüringen, Schleswig-Holstein oder Bayern. Deshalb wird wahrscheinlich dort die Belegung früher wieder ihre Grenzen erreichen. Bundesweit werden wir eine deutliche Fallzahl-Steigerung sehen. Wir haben momentan fast 200 neue Einweisungen auf den Intensivstationen pro Tag. Man muss kein großer Modellierer sein, um hochzurechnen, wie das letztendlich in 10 bis 14 Tagen aussehen wird.

Nun sind diesen Herbst circa 67 Prozent der erwachsenen Bevölkerung geimpft: Warum ist die Inzidenz trotzdem diesen Herbst so viel höher als letzten?

Nun, wir sind mit höheren Inzidenz-Werten in den Herbst reingegangen. Wir haben mehr gelockert, wir haben die infektiösere Delta Variante und wir haben einfach nicht genug geimpft. Diese Kombination erklärt eigentlich ziemlich genau, warum.

Im Internet kursieren derzeit so genannte "Doomsday-Prognosen", wo dann die Rede von 10.000 in der Covid-Patienten bis Weihnachten ist. Finden Sie das realistisch oder ist das jetzt ein bisschen Panikmache?

Natürlich kann dieses Szenario rein rechnerisch passieren, wenn Sie nichts machen. Aber niemand wird Menschenleben opfern, wenn die Situation mit relativ einfachen Maßnahmen noch in den Griff zu kriegen sein wird. Da wird die Politik eingreifen, davon bin ich relativ fest überzeugt. Ich gehe davon aus, dass dann sukzessive wieder Dinge gekappt werden, wie wir das bisher auch hatten. Da wird es zu Eingriffen und eben auch den besagten Möglichkeiten wie einem Lockdown kommen. Aber ich glaube nicht, dass diese Katastrophenszenarien wirklich eintreten. Und dann muss man eben auch wirklich aufpassen, dass man nicht zu viel Angst macht. Es ist ja immer diese Mischung aus: Wir müssen zumindest mal sagen, das kann passieren, aber macht bitte, damit das eben nicht eintritt. Aber jetzt diese apokalyptischen Szenarien zu posten ,das bringt auch nur bedingt was.

"Wir treiben durch die Wellen auf die Klippen zu und alle schauen mit großen Augen zu. Es ist wie bei Titanic: Die Kapelle spielt noch mal auf und wir warten auf den großen Knall."

Sie haben gerade vor mir mit der Gesundheitsministerin telefoniert. Was ist Ihr Eindruck: Wird die Politik noch härtere Maßnahmen ergreifen?

Ich glaube nicht, dass diese Situation noch viele Tage so weitergehen wird, ohne dass entsprechende Handlungen ergriffen werden. Im Moment sind wir wie ein kapitänsloses Schiff. Wir treiben durch die Wellen auf die Klippen zu und alle schauen mit großen Augen zu. Es ist wie bei Titanic: Die Kapelle spielt spielt noch mal auf und wir warten auf den großen Knall. So fühle ich mich manchmal. Also ich habe so meine Zweifel, dass sich die Politik zu harten Maßnahmen durchringen möchte, aber ich glaube, sie wird nicht drum herum kommen. Letztendlich wird sie dazu gezwungen sein, um die Bevölkerung zu schützen, ob sie das dann will oder nicht. Es wäre schön, wenn die Politik das präventiv auch schon auf dem Schirm hätte. Vielleicht hat sie das, aber kommunizieren tut es leider niemand. Das ist genau das Problem: Der Bevölkerung wird nicht kommuniziert, wie die Lage ist und die ist in meinen Augen extrem ernst im Moment.

Und halten Sie 2G für eine geeignete Maßnahme? Oder muss noch mehr passieren?

2G ist derzeit in meinen Augen der beste Kompromiss, den wir haben. Das ist wahrscheinlich das, was wir noch am ehesten durchsetzen können, weil der Lockdown an sich zur Persona non grata degradiert worden ist, der nicht mehr in den Mund genommen werden darf. Und deswegen ist 2G auf die Schnelle die härteste, durchsetzbare Maßnahme. Denn wir brauchen jetzt relativ zeitnah eine Maßnahme.

Aber ist das 2G-Modell genug, um Ihre Prognose zu verhindern?

Dort wo die 2G-Regel schon eingeführt ist, sieht man bisher keine Kehrtwende der Inzidenzen. Die Frage wird sein: Wie gut wird die Regel kontrolliert? Wenn Sie zum Beispiel an den Lockdown Light zurückdenken vor knapp einem Jahr, der hat jetzt leider auch nicht so viel gebracht. Solche halbherzigen Maßnahmen bieten einfach immer noch genug Schlupflöcher. Ich hoffe natürlich, dass es etwas bringt und ich würde 2G natürlich erst mal jedem vorschlagen, denn es ist letztendlich der Strohhalm, den wir jetzt gerade haben. Es ist der härteste Hammer, der gerade so rumliegt. Aber ob er reicht, das wage ich erst mal zu bezweifeln. Da hatte ich vielleicht früher noch andere Gedanken, aber wenn ich die Entwicklung der aktuellen Situation sehe...

"Es würde mich wundern, wenn wir einen Weg ohne härtere Maßnahmen durch diesen Herbst und Winter finden."

Haben Sie die aktuelle aktuellen Zahlen auch prognostiziert?

Es überrascht mich nicht, wie die Lage sich entwickelt, nämlich genauso wie wir es vorhergesehen haben, aber trotzdem schockiert es doch noch mal in der Sekunde, in der es so weit ist. 2G wird über kurz oder lang kommen und kommen müssen. Wir müssen das aber entsprechend kontrollieren und umsetzen. Und ich hoffe wirklich, dass wir die Impfmuffel doch noch davon überzeugen, sich impfen zu lassen. Aber wir müssen natürlich trotz allem weiter impfen, das ist ganz wichtig, vor allem die Ungeimpften. Und der, der schon geimpft ist, muss sich letztendlich boostern lassen. Aber Impfen und Boostern bringt uns kurzfristig nichts. Über die nächsten drei bis vier Wochen bringt uns das keine große Entlastung. Vielleicht in fünf bis sechs Wochen, wenn der Immunschutz wieder vollständig da ist. Aber um diesen akut aufsteigenden Ast zu knicken und zu brechen, hilft die Impfung erstmal leider gar nicht.

Würden Sie also eher für kurzfristige, aber dafür etwas härtere Maßnahmen plädieren?

Es würde mich wundern, wenn wir einen Weg ohne härtere Maßnahmen durch diesen Herbst und Winter finden. Wir sind wirklich erst am Anfang, das darf man nicht vergessen. Wir haben jetzt erst Anfang November. Der schlimmste Teil des Infektionsgeschehens wird uns noch bevorstehen gegen Ende des Jahres. Jetzt kommt auch noch der Punkt der Saisonalität zur Infektiosität dazu. Da sehe ich jetzt im Moment mit der Halbherzigkeit, die hier überall gefahren wird, noch keine Möglichkeit, dass wir das in den Griff kriegen. Der reine Apell an die Vernunft hat bisher in der Politik herzlich wenig geholfen.

Glauben Sie, dass wir Weihnachten dieses Jahr normal feiern können?

Ich glaube, der Weg bis Weihnachten wird ganz schwierig, aber über Weihnachten müssen wir dann reden, wenn es soweit ist. Ich gehe schon davon aus, dass es wieder wie im letzten Jahr auch Möglichkeiten geben wird, in die Familie zusammen feiern, vor allem mit 2G. Es bleibt aber die Verantwortung des Einzelnen, sich selbst und seine Familie durch eine Impfung zu schützen. Ich persönlich glaube, dass wir eine Regelung finden, weil Weihnachten so ein heiliges Fest ist bei uns. Selbst wenn die Welt untergehen, würden wir uns dort treffen oder vielleicht auch gerade dann. Aber wie die Inzidenz und die Lage an Weihnachten sein wird, das können wir nicht vorhersagen, weil die da die Politik und das menschliche Verhalten so eine große Rolle spielen wird.

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