Schulen und Läden geschlossen, Großveranstaltungen verboten: Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie dienen vor allem dazu, Menschenmassen zu entzerren, um eine Ansteckung mit dem Virus zu vermeiden.
Doch es gibt Orte, an denen Ansammlungen kaum bis gar nicht vermieden werden können. Zum Beispiel Gefängnisse. In solchen geschlossenen Systemen, in denen Menschen dicht an dicht zusammenleben und einander nicht ausweichen können, wäre es verheerend, wenn das Coronavirus Eingang fände. Erschwerend kommt hinzu, dass in Justizvollzugsanstalten (JVA) besonders häufig Risikogruppen vertreten sind: also Menschen, die überdurchschnittlich häufig suchtkrank oder mit immunschwächenden Leiden wie HIV diagnostiziert sind.
In mehreren Bundesländern wurden bereits Häftlinge entlassen, um Raum zu schaffen in den teils überfüllten Gefängnissen. Menschen, die schwere Straftaten begangen haben, wie Gewalt- oder Sexualstraftäter, betreffen die Freilassungen nicht. Das bestätigt auch Marco Bras dos Santos von der Gefangenen-Gewerkschaft/Bundesweite Organisation (GG/BO):
In der GG/BO setzt Bras dos Santos sich für die Rechte von Inhaftierten ein. Während der Corona-Krise plädiert er dafür, dass mehr Insassen, die milde Straftaten begangen haben, entlassen würden. So könnte auch die wesentlich kleinere Gruppe von Menschen, die aufgrund von schwereren Gesetzesverstößen nicht freigelassen werden können, besser in den Anstalten geschützt werden.
Im Interview sprach watson mit Bras dos Santos darüber, ob Gefängnisse für die Corona-Krise gewappnet sind und welchen Sinn Haftstrafen jetzt noch haben, wo sämtliche Maßnahmen zur Resozialisierung wegen des Virus ausgesetzt werden müssen.
watson: Inwiefern stellt die Corona-Krise eine besondere Belastung für Insassen dar?
Marco Bras dos Santos: Wie wir bisher mitbekommen haben, ist die Lage sehr angespannt, sowohl für die Insassen als auch deren Angehörige. Um die Pandemie weiter einzudämmen, wurde bundesweit das Besuchsrecht ausgesetzt. Das bedeutet eine erhebliche Kontakteinschränkung und psychische Belastung für die Insassen, die nun nicht unbegrenzt mit ihren Familienmitgliedern telefonieren können. Mal abgesehen davon, dass natürlich auch in den Gefängnissen selbst eine Angst vor Ansteckung herrscht.
Sind Ihnen bereits Corona-Fälle in Haftanstalten bekannt?
Bisher gab es Fälle von positiv getesteten Beamten, jedoch nicht von Insassen. Von der Seniorenstation einer JVA in Waldheim erreichte uns vor Kurzem die Information, dass sich mehrere Insassen und Beamte mit dem Coronavirus angesteckt hätten. Im Endeffekt konnten die Fälle nicht bestätigt werden. Das zeigt allerdings, wie schnell auch Gefängnisse ungesicherte Informationen kommunizieren können.
Glauben Sie, dass die Gefängnisse ausreichend vorbereitet sind auf die pandemische Welle?
In einigen Anstalten wurden bereits kleine Räume vorbereitet, in denen Patienten isoliert werden könnten. Was die medizinische Versorgung betrifft, können wir noch nicht beurteilen, wie sie gewährleistet wird. Auch herrschen da massive Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Wir müssen es auf jeden Fall verhindern, dass wir ein ähnliches Szenario wie in Italien erleben: Dort ist die Pandemie bereits hinter Gittern angekommen. Es fehlt es an Masken oder Schutzkleidung, das könnte hier auch passieren.
Wie werden Gefängnis-Insassen bisher vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus geschützt?
Bisher haben wir nicht den Eindruck, dass ausreichende Schutzmaßnahmen für die Insassen getroffen worden sind. Die Gefängnisse sind schließlich geschlossene Systeme, in denen viele Menschen zusammen auf engem Raum leben. Es gibt häufig kaum Ausweichmöglichkeiten, weder beim Essen noch beim Duschen. Auch Rundgänge oder Maßnahmen zur Resozialisierung wie Gruppenaktivitäten können Ansteckungsrisiken bergen. Deswegen wurden viele Veranstaltungen in den Anstalten mittlerweile ausgesetzt.
Welche Veranstaltungen betrifft das genau?
Das können Freizeitaktivitäten sein, aber auch weiterbildende Maßnahmen oder Treffen mit Suchttherapeuten. Damit wird das oberste Ziel der Anstalten nicht mehr erfüllt: die Resozialisierung, damit Insassen in Zukunft wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Haftstrafen verlieren ihren Zweck, wenn sie den Menschen keine Gelegenheit mehr geben, sich zu bessern.
In einigen Bundesländern, wie Berlin, Brandenburg oder Hamburg, wurden Insassen frühzeitig entlassen, um die Gefängnisse zu entlasten. Was halten Sie von solchen Maßnahmen?
Sie sind in Anbetracht der aktuellen Lage notwendig. Menschen, die nicht gefährlich sind – also solche, die keine Gewalt- oder Sexualverbrechen begangen haben – haben jetzt im Gefängnis nichts zu suchen. Vor allem sollten Insassen, die zu einer Risikogruppe gehören, nun frühzeitig oder in einen Hafturlaub entlassen werden.
Was bedeutet das, Hafturlaub?
Sofern ein fester Wohnsitz vorhanden ist, kann in Einzelfällen beantragt werden, dass ein Insasse von seiner Haft eine Zeit lang beurlaubt wird. Je nach Wohnort kann so ein Hafturlaub an weitere Bedingungen geknüpft sein, wie zum Beispiel, dass man bestimmte Orte nicht aufsuchen oder zu bestimmten Personen keinen Kontakt haben darf. Generell wäre Hafturlaub allerdings eine gute Möglichkeit, die Situation in den Anstalten zu entzerren.
Wen könnte man denn nun in den Hafturlaub entlassen oder wem könnte man die restliche Gefängnisstrafe nun erlassen?
Meiner Ansicht nach könnte man, je nach Gefängnis, 70, 80 oder gar 90 Prozent aller Insassen in die Freiheit entlassen, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben. Es gibt Anstalten, in denen vor allem Menschen inhaftiert sind, die nur kleinere Delikte begangen haben, zum Beispiel Diebstahl. Bei vielen anderen Insassen wären außerdem wahrscheinlich andere Maßnahmen als eine Gefängnisstrafe hilfreicher, wie eine Therapie oder Kurse zur Konfliktbewältigung.
Welche weiteren Maßnahmen wünschen Sie sich, um Insassen zu schützen?
Wichtig ist es, dass die Justizministerien und die Anstalten selbst offen über die Krise kommunizieren, also transparent machen, ob es Fälle von Corona in Gefängnissen gab und welche Maßnahmen deswegen getroffen werden. Das ist nicht nur wichtig für die Öffentlichkeit, sondern vor allem auch für die Insassen und ihre Angehörigen, um sie nicht im Unklaren zu lassen.
Weiterhin setzen wir uns dafür ein, dass Insassen einen Lohnausgleich bekommen, wenn sie ihrer Tätigkeit in den Anstalten nicht mehr nachgehen können – ähnlich wie jetzt die zivile Bevölkerung Kurzarbeitergeld bekommt. Und die Möglichkeit, kostenlos mit den Angehörigen telefonieren zu können, ist nun wichtig: Denn viele Dinge des alltäglichen Lebens, wie Telefonieren, sind in Haft zwar möglich, aber sehr viel teurer als üblich. Da aktuell keine Besucher erlaubt sind, ist Telefonieren die einzige Möglichkeit, Kontakt mit Angehörigen zu halten. Italien hat Insassen deswegen schon kostenlos Handys zur Verfügung gestellt, das könnten wir hier auch tun.
Wie wird sich Corona auf den Strafvollzug auswirken? Glauben Sie, dass es in Zukunft weniger Gefängnisstrafen geben wird?
Wir beobachten gerade, dass Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen müssen, nun häufiger entlassen werden. Das sind Insassen, die in Haft sind, weil sie eine Geldstrafe nicht bezahlt haben. Es wurde teils schon länger diskutiert, ob Gefängnisstrafen in solchen Fällen sinnvoll sind – vielleicht stößt die aktuelle Situation Denkprozesse für die Zukunft an. Fest steht jedenfalls, dass wir nach der Krise erst sehen werden, ob sich unser jetziges System in dieser Form noch halten können wird oder ob wir die ein oder andere Maßnahme überdenken müssen.