Julia ist 25 Jahre alt und angehende Ärztin. Sie hat gerade in München ihr Praktisches Jahr begonnen.
Auf Tiktok, wo sie sich @julia.carlotta nennt, hat die Kölnerin mehrere Videos zu ihrem Leben als Medizinerin veröffentlicht. Zuletzt ging einer ihrer Clips viral. Das Thema: Sexismus in der Medizin.
Innerhalb von 72 Stunden erreichte sie eine Viertelmillion Menschen. Tendenz noch immer steigend. Im Interview mit watson spricht Julia über Vorurteile in der Medizin, Korrekturen ihres Freundes, mangelnde Kraft und die verbale sexualisierte Belästigung, die sie in einem OP erlebte.
watson: Julia, warum hast du dich entschieden, Sexismus in der Medizin auf Tiktok zum Thema zu machen?
Julia: Ich wollte Awareness schaffen. Denn Sexismus ist ein großes Thema unter den Studierenden, auch weil wir Frauenquoten von 60 bis 70 Prozent haben. Aber viele Menschen bekommen davon nichts mit. Und wir sind frustriert.
Kannst du ein Beispiel nennen?
Wenn du die Frauenquoten in Führungspositionen anschaust, wird dir schlecht. Wir hatten gerade eine ganz tolle Veranstaltung im Hörsaal zum Auftakt des Praktischen Jahrs, 14 Studierende, zwölf davon Frauen. Als die Ansprechpartner genannt wurden, an die wir uns wenden können, sagte die Frau neben mir: "Ach, welch Überraschung: nur Männer."
Wie wirkt sich das auf den Alltag aus?
Wenn wir zusammensitzen, dann merken wir, dass uns ähnliche Themen bewegen. Zum Beispiel, dass wir uns über unsere Kleidung oder Schminke Gedanken machen, weil wir befürchten, dass man uns weniger Kompetenz zutraut, wenn wir auftreten, wie man als Frau mit Mitte 20 eben auftritt.
Es ist eine große Frage, aber: Was sind deiner Meinung nach die Gründe?
Wir leben in einer männerdominierten Welt. Wir sagen und denken Dinge, die uns beigebracht werden. Und das möchte ich unbedingt betonen: Ich mache das vielen Menschen nicht zum Vorwurf, ich bin selbst nicht frei von sexistischen Gedanken oder Vorurteilen. Wir sollten sie nur nicht als normal empfinden.
Welches sexistische Vorurteil hast du denn selbst?
Es sind oft Kleinigkeiten. Mein Freund korrigiert mich immer, wenn ich sage, dass ich Arzt werde. Und sagt: "Nein, du wirst Ärztin." Wir dürfen da nicht nur über die Männer sprechen, wir sollten auch die Frauen ins Boot holen.
Wie nimmst du denn die Patient:innen wahr?
Verallgemeinern darf man es nicht, aber da greifen echt viele Vorurteile. Ich kann neben einem klar jüngeren Kollegen stehen: Er wird als Mann für professionell gehalten, ihm stellen die Menschen die fachlichen Fragen. Und mit mir sprechen sie dann über die eigene Frau und die Kinder und erzählen, was sie beruflich machen. Wenn ich neben einem Mann stehe, versuche ich im Job mittlerweile, so dominant wie möglich zu wirken, damit ich ernst genommen werde.
Du hast auf Tiktok eine heftige Situation geschildert. Ein Arzt hat dich angesehen und gesagt: "Mund auf, Augen zu, es spritzt."
So ist es. Ich war Hakenhalterin in einem OP, war damals im dritten Semester. Zwei Monate später habe ich gekündigt, weil ich in diesem Umfeld nicht mehr arbeiten wollte. In der Klinik hat es immer wieder gekracht.
Wie bewusst ging die Aussage in deine Richtung?
Er hat als Arzt, der die Operation leitet, pausiert, mir in die Augen geschaut, den Satz gesagt, in sich hineingegrinst und danach ruhig weitergearbeitet. Und ein Oberarzt, der ihm im Alltag, aber nicht in dieser Situation überstellt war, stand daneben. Es waren mit mir sieben Leute im OP. Niemand hat etwas gesagt. Auch danach nicht.
Kannst du dich erinnern, wie es dir unmittelbar danach damit ging?
Ja, weil es mich zuerst gar nicht beschäftigt hat. Ich habe das irgendwie weggeschoben und gar nicht begriffen, welch sexualisierte verbale Belästigung das war. Dann habe ich es eher beiläufig Freund:innen erzählt. Und ihre Reaktionen waren eindeutig. Ich brauchte meine Zeit, um das vollständig zu begreifen. Ich war erst 20 und Neuling. Aber: Es beschäftigt mich offensichtlich bis heute. Sonst würde ich nicht mehr daran denken.
Hast du dich irgendwo offiziell beschwert?
Nein, da bin ich ganz schlecht drin. Und ich wollte auch nicht, dass das für ihn im schlimmsten Fall lebenslange Konsequenzen hat, wenn er rausgeworfen wird. Es war seine erste eigene OP, er war vermutlich stolz, es war sehr deutlich eine Machtdemonstration gegenüber einer jungen Frau.
Kannst du erklären, warum du nicht dagegen vorgegangen bist?
Ich habe reagiert, wie die Gesellschaft in solchen Fällen oft reagiert. Da muss ich nur in die Kommentare unter meinem Tiktok-Video schauen. Da ist breiter Konsens, gerade bei Männern natürlich, dass das ja nur ein Witz war. Und sogar manche Frauen fühlen sich gestört, wenn man so etwas zur Sprache bringt. Ich wollte nicht die Frau sein, die wieder alles überdramatisiert. Schon wieder so ein gesellschaftliches Klischee.
Wobei unter deinem Video auch viel Zuspruch zu lesen war.
Ja. Genügend Frauen sind gegen fiese Kommentare vorgegangen. Und mehrere Männer haben gesagt: "Danke fürs Augenöffnen." Das tat gut, das zu lesen.
Du bist 25 und in einer Phase, in der du deine Karriere planen musst. Haben die gemachten Erfahrungen Auswirkungen auf deine Ziele?
Die Frage ist gut, weil sie den Nagel auf den Kopf trifft. Ja, so ist es.
Inwiefern?
Ich will in die Chirurgie und dort in die Gynäkologie. Mich catcht die Emotionalität und der hohe Anspruch an das Fach, das ist in München echt kompetitiv. In Kombination mit der Geburtshilfe finde ich das unglaublich spannend. Aber ich merke, dass ich mich andauernd dafür rechtfertige, weil ich immer Angst habe, dass jemand mir vorwerfen würde, ich wäre dann "nur Gynäkologin". Ich erkläre andauernd, warum das nicht weniger anspruchsvoll ist als andere Fachbereiche. Auch ungefragt.
Warum kommt für dich nichts anderes infrage?
Mich reizt inhaltlich nichts anderes so sehr. Und ich weiß, dass der Frauenanteil in der Gynäkologie so viel höher ist als in allen anderen Bereichen. Ich weiß, dass der Konkurrenzkampf dort auch sehr groß ist, aber ich würde mich vor allem mit Frauen messen, um voranzukommen. Ich muss dort nicht befürchten, benachteiligt zu werden, weil ich eine Frau bin. Für alles andere habe ich keine Kraft mehr.
Was wünschst du dir, damit es zumindest langsam besser wird mit dem Sexismus in der Medizin?
Ich würde gerne bei den Kolleg:innen anfangen, denn wir sind Ärzte, wir können keine Patient:innen belehren, das steht uns nicht zu. Ich würde es toll finden, wenn die Männer in der Medizin sich selbst fragen, inwiefern Vorurteile ihr Denken beeinflussen; wenn sie sich bewusst werden, dass sie Klischees haben, nur weil ich hohe Schuhe oder ein Kleid trage. Wir kommen nur voran als Gesellschaft, wenn wir immer mehr positive Vorbilder schaffen, die sich selbst auch hinterfragen.