Es gibt nichts, was man die Auschwitz-Überlebende Tova Friedman nicht fragen kann, scheint es: "Did you hear their screams? – Hast Du ihre Schreie gehört?" oder "Did you go on Death March? – Warst Du beim Todesmarsch dabei?". Auf ihrem Tiktok-Kanal "TovaTok", den die mittlerweile 84-Jährige mit ihrem Enkel Aron betreibt, beantwortet sie unermüdlich jede Frage zum Holocaust, die die Zuschauer ihr schicken.
Über ihre Erfahrungen im Krieg und im Lager spricht Tova Friedman regelmäßig öffentlich. "Gegen das Vergessen" ist so etwas wie ihr Lebensmotto. Nun hat sie ein Buch über "Das Mädchen aus Auschwitz" geschrieben.
"Wenn Sie jetzt weiterlesen, möchte ich, dass Sie schmecken, fühlen und riechen, wie es war, als Kind während des Holocaust zu leben", schreibt Tova Friedman im Vorwort.
Als das Lager Auschwitz im Januar 1945 befreit wurde, war Tova sechs Jahre alt. Ein sowjetischer Kameramann filmte die Menschen kurz nach der Befreiung. In den historischen Aufnahmen wirken sie benommen, als hätten sie noch gar nicht begriffen, was geschehen ist. Sie waren auch Wochen nach der Befreiung immer noch halb verhungert, die Rote Armee musste sie mit Essen versorgen, damit sie überhaupt laufen konnten.
Auch eine Gruppe Kinder ist im Film zu sehen, darunter die kleine Tova. Schüchtern und unschuldig lächelt sie in die Kamera und zieht ihren Ärmel hoch: Darauf die Nummer, die alle Insassen in Auschwitz tätowiert bekommen haben.
Tova hat Unvorstellbares durchgemacht, um zu überleben. Sie hat sich kurz vor der Befreiung unter anderen toten Lagerinsassen versteckt, um nicht noch entdeckt und getötet zu werden. Sie hat furchtbar Hunger gelitten, unbeschreibliches Grauen miterlebt und als eine der wenigen Überlebenden eine Gaskammer von innen gesehen.
watson hat sie, zusammen mit ihrem Enkel Aron, mit dem sie ihren Kanal "TovaTok" betreibt, erzählt, wie sie es heute schafft, so locker in ihren Tiktok-Videos von all dieser Grausamkeit zu erzählen und warum sie das macht.
watson: Wie sind Sie beide dazu gekommen, gemeinsam einen Tiktok-Kanal zum Thema Holocaust zu machen?
Aron: Als ich aufgewachsen bin, habe ich unzählige Geschichten über das Leben meiner Großmutter im Lager gehört, daher ist mir das Thema Holocaust sehr nahe – es hat meine Familie direkt betroffen. Aber als ich in die Highschool kam, wurde mir klar, dass nur wenige meiner Mitschüler solche Geschichten kannten wie die meiner Großmutter.
Steht in der Highschool der Holocaust nicht auf dem Lehrplan?
Aron: Im Lehrplan meiner Schule werden der Holocaust und seine Auswirkungen auf die heutige Gesellschaft kaum thematisiert. Ich spürte, dass es eine Bildungslücke gab, die geschlossen werden musste. Also setzte ich mich eines Abends mit meiner Großmutter zusammen und nahm ein paar Videos auf, in denen sie von ihren Erlebnissen berichtete.
Ich hatte mit ein paar Aufrufen hier und da gerechnet, aber ich hätte mir nie vorstellen können, wie groß die Resonanz der Zuschauer sein würde. Es waren erst Tausende, dann Zehntausende und schließlich Millionen von Menschen aus der ganzen Welt, die einschalteten und sich anhörten, was wir zu sagen hatten. Was mit ein oder zwei Fragen begann, wurde schnell zu über 200 Fragen auf einmal. Uns wurde klar, dass die Menschen wirklich etwas über den Holocaust wissen wollten.
Warum habt ihr Tiktok als Plattform gewählt?
Aron: Ich habe mich für Tiktok entschieden, weil es die meistgenutzte Social-Media-Plattform meiner Generation geworden ist. Tiktok ist zu einem Nährboden für hasserfüllte Ideologien geworden, einschließlich rechtsradikaler Propaganda, die sich an ein jüngeres Publikum richtet. Die offene Ignoranz, Leugnung, Verharmlosung und Verbreitung von Fehlinformationen über den Holocaust hat mich zutiefst beunruhigt. Mein Ziel ist es, genau diese jungen Erwachsenen auf der gleichen Plattform mit der Wahrheit zu erreichen, um sie davon abzuhalten, sich von Hass und Leugnung in die Irre führen zu lassen.
Was ist Ihre Motivation, was wollen Sie erreichen?
Tova Friedman: Ich bin eine der jüngsten Überlebenden des Holocaust und gehöre zur letzten Generation, die die Geschichte noch persönlich erzählen kann. Hitler wollte keine Zeugen. Aber ich bin eine Zeugin und ich empfinde es als meine Pflicht, den Menschen zu erzählen, was passiert ist. Ich muss dafür sorgen, dass die Welt von den Schrecken des Holocaust weiß, damit sie nie vergisst, was passiert, wenn man das Böse eitern lässt. Der Holocaust geschah nicht über Nacht, die Menschen ließen ihn geschehen. Wir müssen daraus lernen, um sicherzustellen, dass so etwas nie wieder geschieht.
Und ich spreche im Namen der 1,5 Millionen Kinder, die ermordet wurden, sie dürfen niemals vergessen werden. Wir erreichen junge Menschen auf der ganzen Welt, von denen einige noch nie etwas über den Holocaust gehört haben und noch nie einen Überlebenden sprechen hörten.
Aron: Ich möchte etwas bewirken, indem ich meine Generation aufkläre. Die Botschaft lautet, dass jeder Einzelne etwas bewirken kann, indem er sich aufklärt und sich gegen destruktiven Hass und Fehlinformationen zur Wehr setzt.
Frau Friedman, welche Gefühle haben Sie, wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken?
Tova Friedman: Es ist unglaublich. Ich kann nicht glauben, dass ich überlebt habe. Und ich habe eine Mission, ich bin dankbar, dass ich hier bin und lange genug lebe, um Zeuge zu sein. Und indem ich meine Geschichte erzähle, kann ich vielleicht verhindern, dass sich einige der Gräueltaten wiederholen.
Wie schaffen Sie es, in ihren Tiktok-Videos so lässig darüber zu sprechen?
Tova Friedman: Jedes Mal, wenn ich darüber rede, werde ich in diese Momente zurückversetzt. Ich kann die Hunde hören, den Rauch riechen und den Hunger spüren. Es fällt mir also nicht leicht, zu sprechen. Aber ich muss. Ich muss meine Geschichte und die Geschichte der anderen Kinder erzählen, damit die Welt sie nie vergisst. Aber mein Enkel Aron macht es mir leichter. Die Videos sind nur ein bis zwei Minuten lang, er nimmt sich Zeit und versucht, die Stimmung aufzulockern.
Aron, wie ist das für dich, wenn du deine Großmutter über ihre Erlebnisse sprechen hörst?
Aron: Ich liebe meine Großmutter, daher ist es natürlich schwer, ihre Erfahrungen zu hören. Sie ist mein Vorbild, und ich bin stolz auf sie, weil sie gesprochen hat und ich fühle mich inspiriert, ebenfalls zu sprechen. Mir ist klar, dass es eines Tages an mir liegen wird, ihre Stimme zu sein.
Frau Friedman, wie können Probleme wie Antisemitismus und Diskriminierung Ihrer Meinung nach am besten für künftige Generationen angegangen werden?
Tova Friedman: Bildung. Die Menschen müssen wissen, was passiert ist, damit sie verhindern können, dass sich so etwas wiederholt. Aber auch, um den "Anderen" kennenzulernen. Es ist leicht zu hassen, wenn man die andere Person nicht kennt, wenn man nur die Unterschiede sieht. Aber wir müssen darauf achten, wie ähnlich wir uns sind. Wir sind uns stets mehr ähnlich als verschieden.
Ich mache mir immer Sorgen darüber, wer meine Geschichten erzählen wird, wenn ich nicht mehr bin. Aber jetzt weiß ich, dass Aron weitermachen wird, und das ist wichtig für mich, aber auch für die Welt, weil sie es wissen muss. Sie muss begreifen, was Hass anrichten kann.