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Die Corona-Krise deckt unsere schlimmsten Eigenschaften auf

Front view of a student wearing a protective mask gesturing stop in a college campus
Jeder scheint sich gerade über die Corona-Krise zu beschweren – und dabei das Wesentliche aus den Augen zu verlieren. Bild: iStockphoto / AntonioGuillem
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Die Corona-Krise deckt unsere schlimmsten Eigenschaften auf: Was wir jetzt tun sollten

06.04.2020, 15:4506.04.2020, 15:56
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Abseits der kleinen Zeichen der Zwischenmenschlichkeit, die uns während der Corona-Krise Mut machen – den Angeboten, für ältere Nachbaren einzukaufen, dem Applaus, der von Balkonen durch fast leere Straßen schallt – deckt das Virus Eigenschaften auf, auf die wir wohl nicht ganz so stolz sind:

Wir beschweren uns gerne. Wir sind Nörgler.

Die Jungen beschweren sich über die Alten, weil diese sie am liebsten einsperren wollen. Die Alten über die Jungen, weil die sich gefühlt an keine Regeln halten. Normale Einkäufer im Supermarkt beschweren sich, dass die Produktauswahl wegen Hamsterkäufern dünn geworden ist. Die Hamsterkäufer beschweren sich, weil sie nur drei Packungen XXL-Klopapier mitnehmen dürfen. Die eine Freundin beschwert sich, dass ihr zu Hause die Decke auf den Kopf fällt und nur noch Joggen hilft. Die andere beschwert sich über Jogger, die sie im Vorbeilaufen mit dem Virus anschwitzen könnten.

Es ist ein schier endloser Kreislauf des Motzens. Jeder will es irgendwie besser wissen in einer Zeit, in der eigentlich niemand nix weiß. Weil wir so eine Epidemie noch nie erlebt haben.

Das Herumgemotze während der Corona-Krise macht alles nur noch schlimmer

Um es noch bunter zu machen, steige ich jetzt mit ein in den Motz-Arena. Um mich auch zu beschweren. Nicht über die Beschwerer. Jeder hat wohl einen durchaus nachvollziehbaren Grund, um jetzt wütend, frustriert oder ängstlich zu sein.

Ich will mich über das Beschweren beschweren.

Eine Krise wie die jetzige ist nicht nur deswegen so gruselig, weil das Coronavirus eine gefährliche Lungenkrankheit verursachen kann. Die Krise bringt Unsicherheit mit sich: Wir können noch keine genauen Aussagen über das Virus treffen, den Verlauf der Pandemie, befürchten eine wirtschaftliche Krise. Wer es gewohnt ist, viel Kontrolle über sein Leben zu haben und Dingen ungern ihren Lauf zu lassen, wird jetzt keine gute Zeit haben. Die Furcht vor dem Unbekannten kennen wir auf die ein oder andere Art wohl alle.

Sich über jemand anderen zu ärgern, ihn gar zu belehren, gibt mir ein wenig Kontrolle zurück. Indem ich jemand anderen zurechtweise und ihm zu verstehen gebe, ich wüsste jetzt eigentlich besser, wie er sich richtig verhalten sollte, markiere ich mein mentales Revier: Hier bin ich der Boss. Alles im Griff. Der Zurechtgewiesene wird meine Botschaft, egal wie sehr ich Recht habe, jedoch möglicherweise nicht annehmen, weil ihm die Verpackung nicht gefällt.

Wenn ich jetzt die Teenager im Park anpöble, warum sie immer noch in Gruppen herumhängen, weil das verantwortungslos sei, habe ich natürlich recht: Schließlich wurden die Maßnahmen zur Abflachung der Corona-Welle aus triftigem Grund getroffen.

Wenn ich mich allerdings in mein 17-jähriges Selbst zurückversetze, wundere ich mich nicht, dass manche jungen Leute schlichtweg keinen Bock haben, auf die Regeln zu hören. Ohne so ein Verhalten rechtfertigen zu wollen: Für eine Gesellschaft, die einen irgendwie immer ein bisschen von oben herab behandelt, ist es schwierig, ein Gefühl von Solidarität zu entwickeln. Vor allem, wenn es im Motz-Ton von einem verlangt wird. Das wird übrigens für jede soziale Gruppe gelten, die sich immer ein wenig ausgeschlossen fühlt.

Sich zu beschweren ist ein Versuch, Kontrolle zurückzugewinnen

Jetzt kann ich mich ärgern und darüber beschweren, dass mein Versuch, Kontrolle auszuüben, nicht funktioniert hat. Oder aber ich sehe ein, dass ich andere Wege finden muss, meine Botschaft zu vermitteln. Bevor ich am Ende ganze soziale Gruppen vergraule, die sich stärker in ihrer Anti-Haltung festigen und dann genau das Gegenteil von dem tun, was jetzt für alle gut wäre: Solidarität beweisen und sich an die Maßnahmen halten.

Eine Eigenschaft des Coronavirus ist es, dass es sämtliche Lücken aufdeckt, die schon seit langem bestehen. Ein Wirtschaftssystem, das auf ständigem Wachstum baut. Ein Gesundheitssystem, in dem es an guten Arbeitsbedingungen und Personal mangelt. Aber auch ein fehlendes Verständnis für Menschen aus anderen sozialen Gruppen. Wenn diese Lücken nun so deutlich wie nie sichtbar werden, ist es klar, dass wir ein Gefühl von Ohnmacht verspüren – und darüber auch wütend werden.

Das Problem ist allerdings: Wir stecken nun mitten in der Krise. Volle Möhre. Wir wissen nicht, wie sich das Virus entwickeln wird. Wir wissen nicht, was auf unser Gesundheitssystem zukommt. Oder wie es genau mit unserer Wirtschaft weitergeht.

Um die Krise zu überstehen, müssen wir einige Diskussionen beiseite schieben

Weil das schon schlimm genug ist, brauchen wir jetzt etwas anderes als Beschwerde von allen Seiten und Unverständnis für unsere Mitmenschen: nämlich Besonnenheit. Wir werden einige Debatten und Anschuldigungen eine Weile beiseite schieben müssen, um uns auf das Wesentliche zu fokussieren: Diese Krise zu überstehen. Ja, es ist schwierig, weil wir verunsichert sind, auf viele normale Dinge, wie Freunde zu treffen und ins Kino zu gehen, verzichten müssen, vielleicht auch Angst haben vor der Krankheit. Oder vor Einsamkeit. Oder vor finanziellem Mangel und Jobverlust.

Diese großen Gefühle, die wir jetzt alle angesichts der Krise haben, sind nicht verhandelbar. Ich kann niemandem die Angst vor dem Coronavirus wegmotzen, selbst wenn sie übertrieben sein mag. Genauso wenig, wie ich jemandem die Angst davor wegmotzen kann, den Anschluss zu seiner sozialen Gruppe zu verlieren. Wir müssen jetzt alle ein bisschen den Arsch zusammenkneifen und diese Krise aussitzen. Vielleicht können wir das dem verhältnismäßig kleinen Teil der Bevölkerung, dem das schwerer fällt, aber auch ohne verärgerten Besserwisser-Ton beibringen. Um auch an dieser Stelle Solidarität zu beweisen.

Wir sollten Menschen ihre Ängste auch lassen können

Der Psychiater Michael Huppertz mahnte in einem Interview mit watson zu Hamsterkäufen, dass wir uns während der Krise daran erinnern sollten: "Ich bin nicht der Bauchnabel des Universums." Wir sollten anderen Menschen, die nun aus Angst viele Einkäufe horten, ihre Angst bis zu einem gewissen Maße gönnen, ohne sich im eigenen Tun beeinflussen zu lassen.

Ähnliches könnte in anderen Situationen auch gelten. Vielleicht kann ich mir bewusst machen, dass ein Kontaktverbot nie zu hundert Prozent durchsetzbar ist, weil wir nun einmal keine ferngesteuerten Roboter sind, und vereinzelte, kleine Grüppchen von Menschen draußen tolerieren.

Wir müssen neu lernen, miteinander auskommen

Es ist eine schwieriger Zeit, in der wir uns gerade befinden. Eine Zeit großer Gefühle, die alle ihre Daseinsberechtigung haben und mit denen wir, neben der Krise, umgehen lernen müssen. Eine Zeit, in der wir ein gesellschaftliches Miteinander rasant neu definieren müssen.

Lasst uns – trotz drastischer Maßnahmen und einiger Rebellen, die sie nicht befolgen, trotz körperlicher Distanz und reduziertem Kontakt – unser Gefühl für das Miteinander nicht verlieren. Unsere Nerven, aber auch unser Gespür für Zwischenmenschlichkeit, werden nun auf eine Probe gestellt. Wenn wir nicht immer nur mit dem Finger auf andere zeigen, können wir sie meistern.

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