Traumaberaterin Gina Kümmel erlebte selbst familiären Missbrauch und brauchte Jahre, um das aufzuarbeiten. Was sie dabei lernte, fasst sie im Buch "Durchbrich den Kreislauf: Wie familiäres Trauma Generationen prägt und es dir gelingt, dich davon zu befreien" (mvg Verlag) zusammen.
Für watson erklärt sie, welchen Gegenwind Menschen zu erwarten haben, die unbequeme Wahrheiten aussprechen und warum es sich trotzdem lohnt.
Cycle Breaker sind die "Schwarzen Schafe" der Familie. Sie sprechen Tabu-Themen (zum Beispiel Suchterkrankungen, häusliche Gewalt) an, die oft unbewusst innerfamiliär weitergegeben werden.
In der Regel kämen bei Cycle Breakern ein paar Charaktereigenschaften zusammen, weiß die Expertin aus der Praxis:
Die Einsicht, dass sie selbst "Verhaltensmuster zeigen, die andere verletzen", sei oft Ausgangspunkt für den Wunsch, sich Hilfe zu suchen. Cycle Breaker wollen den toxischen Kreislauf der Familie durchbrechen, zum Beispiel um ihre eigenen Kinder zu schützen.
Sie hätten begriffen, "dass Veränderung bei ihnen selbst beginnt", sagt Kümmel und zeigten oft ein hohes Maß an Mitgefühl: "Zusammengefasst sind es häufig Menschen, die keine Angst vor Verletzlichkeit haben, selbstreflektiert, empathisch und eigenverantwortlich sind."
Cycle Breaker hätten leider "meistens Widerstand zu erwarten", mahnt Kümmel, "sowohl innerhalb der eigenen Familie als auch gesellschaftlich." In Familien mit ausgeprägter Schweigekultur würden sie als Verräter betrachtet. "Im schlimmsten Fall wird das Kind geächtet und verstoßen", weiß Kümmel, die selbst keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie hat.
Typische Sätze, die dann fallen? "Wie kannst du sowas sagen, nach allem was wir für dich getan haben?", "Übertreib doch nicht" oder: "Ich will davon nichts mehr hören!"
Es gebe oft "ungeschriebene Regeln innerhalb der Familie, dessen Bruch einem Verrat gleichkommt", weiß Gina Kümmel. Zum Beispiel, dass keiner über die Wutausbrüche der Mama spricht. Das Eingeständnis von Trauma könne "das harmonische Bild nach außen stören". Für viele Familien eine Katastrophe.
Nehmen wir an, eine Familie gibt sich besonders intakt, doch dann deckt das Kind auf, dass der – überall beliebte – Papa regelmäßig im Suff seine Frau schlägt. Das würde die "bestehende Machtstruktur in der Familie und ihr Bild nach Außen" verändern. Die Stellung familiärer Autoritätsfiguren sei gefährdet.
Aber auch die Gesellschaft stigmatisiert, weil "die Empörung über Kinder, die sich der Familie widersetzen, oft größer ist, als die Empörung über Kindesmisshandlung". Ein Phänomen, das Kümmel auch in Online-Kommentaren beobachtet.
Sie erklärt das mit Sozialisation:
Woher kommt der Widerstand? Die Wahrheit zu akzeptieren wäre anstrengend und würde "ein hohes Maß an Verletzlichkeit fordern", erklärt die Therapeutin. Viele Menschen hätten davor Angst.
Außerdem könne die Realität so schambehaftet sein, dass sie lieber verleugnet wird. Das gilt besonders für Tabu-Themen wie sexuellen Kindesmissbrauch innerhalb der Familie. Da seien "Scham- und Schuldgefühle keine Seltenheit", gibt die Expertin zu Bedenken.
Auch gesellschaftliche Tabus und Normen spielen eine Rolle. Gina Kümmel führt aus:
"In Bezug auf die eigene Entwicklung sind die langfristigen Folgen sehr positiv", sagt die Therapeutin über das Cycle Breaking. Betroffene könnten oft eine enorme Besserung ihrer Symptome feststellen, "außerdem ein starkes Selbstvertrauen entwickeln, weil sie trotz der Widerstände für sich selbst eingestanden sind".
Diese Erfahrung der Selbstermächtigung ist besonders für Betroffene von Missbrauch und Gewalt heilsam. Kümmel daher: "Auch wenn der Prozess oft schwer und vor allem anfangs sehr schmerzhaft sein kann, lohnt es sich."
Trauma ist oft transgenerational. Das bedeutet, dass traumatische Erfahrungen (zum Beispiel Uromas Hunger nach dem Krieg) sich zu familiären Traumata auswachsen können (wie Essstörungen). Der Ursprung liegt zwar weit in der Vergangenheit, wurde aber nie aufgearbeitet und durch einen toxischen Kreislauf am Leben erhalten.
Daher wäre es auch "wünschenswert, dass sich Familienmitglieder verschiedener Generationen am Heilungsprozess beteiligen", sagt Gina Kümmel.
Es gibt nämlich generationsübergreifende Therapie. Zum Beispiel "die Familienaufstellung nach Hellinger, die sehr gut geeignet ist, um verdeckte Konflikte innerhalb der Familie aufzudecken und zu bearbeiten", sagt die Expertin.
Doch wie bereits erwähnt, sei die notwendige Bereitschaft dazu "oft nicht vorhanden". Schade, aber:
Wer familiäres Trauma aufdeckt, wird vermutlich auf Widerstand treffen. Es kann aber auch sein, dass ein positiver Domino-Effekt entsteht. Sind manche Verwandten sogar erleichtert, wenn das Schweigen gebrochen wird?
"Auf jeden Fall", sagt die Therapeutin: "Es kann sein, dass der Cycle Breaker durch seine Offenheit andere ermutigt, auch über ihr Trauma zu sprechen." Das sei der optimale Ausgang und "ein großer Schritt Richtung Heilung".
Das Schönste?
Vielleicht gelingt das nicht mit jedem Familienmitglied, aber es ist durchaus möglich, dass sich wenigstens die Bindung zu einzelnen Verwandten stärker ausbildet.
Angenommen, ein:e Verwandte:r bringt ein Familiengeheimnis auf den Tisch, dann stärke diesem Mensch den Rücken, indem du "einen emotional sicheren Raum bietest", sagt Kümmel.
Das bedeutet, die Gefühle des Cycle Breakers "erstmal zu glauben, ohne sie abschwächen zu wollen". Vielleicht bist du schockiert oder skeptisch, aber jetzt gilt: "Zuhören, ohne zu unterbrechen, ohne dem Gegenüber seine Gefühle abzusprechen oder Ratschläge zu verteilen."
Wenn du etwas sagen willst, reichen Sätze wie: "Das muss schrecklich gewesen sein. Danke, dass du es mir erzählst." Will der oder die Betroffene nicht mehr reden, sollte "auch das respektiert werden", erklärt Kümmel.
Hilfe anzubieten, zum Beispiel bei der Suche nach einem Therapieplatz, unterstützt genauso, wie zu zeigen, dass man jederzeit für weitere Gespräche da ist. Die Therapeutin sagt dazu abschließend: "Da Betroffene sich oft alleingelassen fühlen, kann das schon Balsam für die verletzte Seele sein."