
In Deutschland erlebt rund jede dritte Frau eine frühzeitig endende Schwangerschaft.Bild: getty images/ E+ / SDI Productions
Interview
Als Anna Thayenthal 2014 ihr erstes Kind im siebten Monat tot zur Welt brachte, saß der Schock tief. "Warum passiert das mir? Was stimmt mit meinem Körper nicht?"
31.05.2025, 14:4531.05.2025, 14:45
Diese Schuldfragen spukten noch in ihrem Kopf, als sie erneut schwanger wurde – nur drei Monate später. "Ich war komplett überfordert", erinnert sie.
So wie ihr geht es vielen Frauen nach Fehl- und Totgeburten. Deshalb begann Anna, online Trauer-Begleitung anzubieten, um ihrerseits Frauen und Paare durch den Trauerprozess, die Kinderwunschzeit und Folgeschwangerschaft zu coachen.
Für watson sprachen wir mit ihr über typische Gefühle nach einem Schwangerschaftsverlust und echten Trost.
watson: Wann suchen Frauen deine Hilfe?
Anna Thayenthal: Die Frauen, die in die Beratung kommen, sagen oft: "Ich dachte, ich kriege es hin, es geht aber nicht." Viele verschätzen sich, weil der Alltag klappt, sie funktionieren. Aber sobald man hinhorcht, ist da riesiger Schmerz.
Du wurdest nach einer stillen Geburt wieder schwanger. Wie war das?
Ich war sehr schnell, drei Monate danach wieder schwanger. Die Überforderung war extrem und auch das schlechte Gewissen gegenüber meinem Sternenkind: Darf ich jetzt schon wieder schwanger sein? Mich freuen? Ich hatte außerdem Panikzustände. Jedes Mal, wenn ich auf die Toilette ging, fürchtete ich, Blut zu entdecken.
"'Ich hätte nie gedacht, dass mir das passiert' ist ein Satz, der oft fällt."
Wie wird man diese Ängste los?
Durch Selbstfürsorge. Ich ermutige meine Klientinnen in sich zu horchen: Was brauche ich heute? Wichtig ist auch zu verstehen, dass Ängste Teil des Lebens sind, wir dürfen lernen sie anzunehmen, anstatt sie zu bekämpfen.
Welche Gefühle sind typisch?
"Ich hätte nie gedacht, dass mir das passiert" ist ein Satz, der oft fällt. Wie viele andere hatte ich selbst auch ein "vom Leben bestraft"-Gefühl, das Gefühl versagt zu haben. In etwa: "Ich bin doch gut gewesen, womit habe ich das verdient?"
Es herrscht oft Entsetzen über stille Geburten: Warum lässt man Frauen das durchleiden?
Es ist ein wichtiger Teil des Heilungsprozesses. Das Gefühl "Ich bringe mein Kind selber auf die Welt", half mir, meinem Körper wieder zu vertrauen und Abschied zu nehmen. Es gibt Frauen, die einen Kaiserschnitt wollen oder sich nicht trauen, ihr Baby zu sehen. Verständlich. Aber vielleicht kann jemand im Krankenhaus Fotos machen? Denn man kann nie zu diesem Moment zurückkehren und oft haben Frauen später den Wunsch danach.
Wann wusstest du, dass es zur stillen Geburt kommt?
Wir erhielten in der 23. Woche die Diagnose Glas-Knochen-Krankheit und hofften drei Wochen lang, dass die Ärzte sich irren. Aber mit jedem Ultraschall kamen weitere Knochenbrüche hinzu. Die Lebenschance meines Sohnes war außerhalb des Mutterleibs nicht gegeben, damit trafen wir die schwerste Entscheidung unseres Lebens: ihn gehen zu lassen.
Erfasst man überhaupt, was Ärzt:innen sagen?
Nein, der Schockzustand ist extrem. Ich überließ das Zuhören meinem Partner, denn ich saß die ganze Zeit nur unter Tränen da.
Wie war das für ihn?
Das große Begreifen kam für ihn erst, als er unseren Sohn im Krankenhaus sah. Das war das erste Mal nach neun Jahren Beziehung, dass ich meinen Mann habe weinen sehen. Der Kleine hatte schwarze Haare, so wie er selbst auch. Da hat er erst so richtig verstanden, dass unser Sohn real war, glaube ich.
Zerbrechen Beziehungen an dieser Trauer?
Nicht unbedingt, aber es gibt Unterschiede, wie Gefühle zugelassen werden. Eine Klientin von mir drückte es so aus: "Mein Mann hat die Trauer in eine Schublade gesteckt. Dann hat er die Schublade zugemacht." Das sagt alles. Viele Männer sind für ihre Partnerin da, denken aber auch: "Ich muss jetzt positiv nach vorne schauen!"
Kann ja auch helfen.
Aber positiv nach vorne schauen und anzuerkennen, was Trauriges gewesen ist, schließt sich nicht aus. Du darfst zuversichtlich sein und gleichzeitig Angst, Trauer und sogar Neid empfinden. Männer durchleben auch nicht den hormonellen Umschwung.
Der erschreckt wohl alle bei der Geburt. Dich auch?
Ich war zum Glück in Hebammenbetreuung. Viele Frauen wissen es nicht, aber man kann in Deutschland auch im Zuge einer kleinen Geburt Hebammen in Anspruch nehmen. Dazu würde ich immer raten, weil das Wochenbett verunsichert, gerade wenn viel Blut fließt.
"Angst ist der Hauptgrund für betroffenes Schweigen. Auch Angst, etwas Falsches zu sagen."
Ein Laie könnte denken, wenn kein lebendiges Kind da ist, braucht es kein Wochenbett oder Hebamme...
...oder Rückbildung – ist aber auch wichtig. Es gibt extra Kurse für verwaiste Mütter. Das ist auch eine gute Möglichkeit, um andere Sternenmamas kennenzulernen.
Hat dir der Kontakt zu Betroffenen geholfen?
Sehr. Ich habe außerdem mit Yoga angefangen und empfehle das, um wieder liebevoll mit dem Körper umzugehen. Yoga hilft auch, um in einer Folgeschwangerschaft mit dem Baby in Verbindung zu gehen.
Wissen deine Kinder von ihrem Sternenbruder?
Wir haben ihnen erzählt, dass es einen Erstgeborenen gab und waren auch an seinem Grab. Meine Tochter hat in der Schule ihren Bruder im Himmel gemalt – daraufhin berichtete eine Mitschülerin, dass sie auch einen Sternenbruder habe. Kinder finden leichter Zugang dazu.
Warum tun sich Erwachsene umso schwerer?
Das Thema Tod konfrontiert uns mit der eigenen Sterblichkeit, was viele so ängstigt, dass sie nicht darüber sprechen wollen. Angst ist der Hauptgrund für betroffenes Schweigen. Auch Angst, etwas Falsches zu sagen.
So wie: "Nächstes Mal klappt es bestimmt"?
Das Problem ist, dass dieser Satz die Trauer aberkennt. Für die Eltern ist das verlorene Baby unersetzlich und vielleicht ist da große Angst vor dem nächsten Mal. "Ich finde die richtigen Worte nicht, aber es tut mir leid", ist schöner. Oder praktische Hilfe anbieten, gerne auch mehrmals: Essen vorbeibringen, den Hund Gassi führen.
Fällt es Betroffenen schwer, Hilfe anzunehmen?
Es fällt ihnen vor allem schwer, dem Umfeld mitzuteilen, was ihnen guttut. Dabei ist es völlig in Ordnung, der schwangeren Freundin zu sagen: "Ich gönne dir alles Glück der Welt, aber der Zeitpunkt ist für mich gerade echt hart, deswegen brauche ich Abstand."
Wie reagiert das Umfeld auf so klare Ansagen?
Oft sehr dankbar. Denn Eltern und Freund:innen wollen meist nichts Böses, aber jede:r stellt sich etwas anderes unter Trost vor, da kommt es zu Missverständnissen. Wir können nicht erwarten, dass andere instinktiv spüren, was man braucht. Die Rückmeldung meiner Klientinnen ist immer: Gut, dass ich meine Wünsche ausgesprochen habe, alle haben es verstanden.
Warum ist dieses Verständnis so wichtig?
Weil ein Kind zu bekommen, für Frauen auch bedeutet, eine Leistung zu erfüllen, den Großeltern ein Enkelkind "zu schenken", den Partner glücklich zu machen.
Dann haben sie ein schlechtes Gewissen?
Ganz oft. Schuldgefühle sind fast immer da. Typisch ist auch das Gefühl: "Bei allen klappt es, nur bei uns nicht!" Leider sind frühe Verluste in der Schwangerschaft aber häufiger, als viele denken – etwa jede dritte Frau ist betroffen. Manchmal hilft es zu verstehen, dass das zur Fortpflanzung gehört. Der Körper "entscheidet" oft selbst, ob eine Schwangerschaft tragfähig ist.
Das nimmt auch Schuld. Sonst heißt es zuweilen: "Woran es wohl lag? Sie hatte ja noch ein Tiramisu..."
Sicher. Der Begriff Fehlgeburt ist auch problematisch. Denn dass ein "Fehler" passiert ist, suggeriert, die Mutter habe etwas falsch gemacht. Ich spreche lieber von einer kleinen Geburt in der frühen und einer stillen Geburt in der späten Schwangerschaft.
Ist es irgendwann möglich, die Schwangerschaft positiv zu erinnern?
Auf jeden Fall! Es kommt der Zeitpunkt, an dem Frauen für Erinnerungen aus der Schwangerschaft dankbar sind und erkennen, wie die Verlusterfahrung ihr Leben verändert hat, sie innerlich gewachsen sind, sich die Beziehung zu ihrem Partner vertieft hat und die Wertschätzung für die kleinen Dinge im Leben wuchs.