Wenn wir klein sind, bitten wir unsere Eltern um Rat. Wir lassen uns von ihnen die Welt erklären, löchern sie mit Warum-Fragen. Doch an was soll man sich halten, wenn die eigene Mutter mit unsichtbaren Menschen streitet und an einen Spion in der Deckenlampe glaubt? Nilüfer Türkmen hat das erlebt.
Die 23-Jährige wuchs nach dem Tod ihres Vaters bei ihrer schizophrenen Mutter in Bremen auf. Eine Kindheit, die voller Liebe, aber auch dunkler Gestalten war, die nur ihre Mama sehen konnte. Schizophrenie äußert sich sehr unterschiedlich, kann aber mit Paranoia, Stimmenhören und Antriebsschwäche einhergehen. Laut Schätzungen von Neurologen betrifft die Krankheit 25 von 10.000 Deutschen.
Für Kinder psychisch kranker Eltern beginnt das Erwachsensein oft verfrüht. Viele übernehmen die Verantwortung für ihre Familie, leiden mit ihren Eltern mit – auch Nilüfer, die über ihre Kindheit ein Buch schrieb, ging es lange Zeit so. Bei watson berichtet sie, wie der Alltag bei ihr zu Hause aussah, warum sie deshalb heute noch ungern schwimmen geht und wie sie sich aus der Welt ihrer Mutter lösen könnte.
Seit ich denken kann, hört meine Mutter Stimmen. Sie streitet sich mit einem "Spion", der in der Deckenlampe lebt, oder fragt einen "Magier" um Rat, der ebenfalls unsichtbar ist. Immer wieder erzählt sie mir auch, dass uns jemand "angehext", also mit einem bösen Fluch belegt hat. "Man will dich mir wegnehmen" – dieser Satz fiel häufig in meiner Kindheit. Schon als Kindergartenkind lernte ich alles über Mörder und Vergewaltiger, die uns schnappen wollten, und meine Mutter erklärte mir im Detail, wie diese vorgingen und wie ich mich dagegen schützen müsste.
Meine Mutter leidet unter paranoider Schizophrenie.
Noch bis in die Schulzeit hinein habe ich ihre Sicht auf die Dinge geglaubt und lebte dadurch im Prinzip in derselben angsterfüllten Welt wie sie. Ich erinnere mich, wie ich zwei "Klapperschlangeneier" mit in die Grundschule nahm, die als Extra einem Micky-Maus-Heft beilagen – das waren zwei Magneten, die zusammen ein klapperndes Geräusch machten.
Meine Mutter erzählte mir auf dem Weg zur Schule, dass daraus bei Wärme echte Schlangen schlüpften und uns angreifen würden. Also hielt ich die Eier den ganzen Vormittag in kühlen Waschlappen gewickelt auf den Knien und geriet nach und nach immer mehr in Panik, dass es zu warm würde und die Reptilien alle meine Mitschüler verschlängen. Was hatte ich mir dabei gedacht, uns alle dieser Gefahr auszusetzen?! Noch heute erinnere ich mich daran, wie schuldig ich mich fühlte.
Doch nach und nach sickerte bei mir ein, dass die Realität und die Geschichten meiner Mutter gar nicht zusammenpassten. Oft durfte ich nicht draußen spielen, weil dort jemand lauerte, der mich "ermorden" wollte. Doch wenn ich vom Balkon unseres Hochhauses schaute, waren im Zwischenhof nur die anderen Kinder, die mit ihren Eltern in der Sonne spielten. Diese Diskrepanz wurde für mich mit zunehmenden Alter immer deutlicher und machte mich manchmal richtig wütend.
Vor allem, wenn meine Mutter schlecht über meine Freunde sprach, deren Familien ihrer Meinung nach "Kannibalen" waren oder Urin trinken würden. In der Grundschule hatte ich zwei Jungs als Freunde, mit denen ich gerne Fußball spielte, doch meine Mutter sagte mir, die beiden würden mich brutal vergewaltigen wollen. Da stellte sich mein Wille gegen ihre Warnungen. Ich dachte: "Nein, ich kenne die beiden und sie sind toll. Diese Geschichte kann nicht richtig sein."
Das Zusammenleben mit meiner Mutter war aber nicht nur schwierig, weil sie halluzinierte, sondern auch, weil sie sich durch ihre Schizophrenie schlecht um mich kümmern konnte. Die Medikamente, die sie nahm, machten sie sehr müde, so kochte ich mein Essen zumeist selbst und brachte mich eigenständig zu Bett.
Sozialarbeiter schalteten sich bald ein, die aber vorerst nichts unternahmen, da meine Mutter und ich – abgesehen von ihrer Paranoia – ein unheimlich liebevolles und enges Band haben, dass nicht zerstört werden sollte. Das ist bis heute so.
Dennoch wurde ich als Neunjährige in ein Kinderheim gebracht. Ich denke, es war keinen Moment zu spät, denn tatsächlich war es für mich psychisch anstrengend, den nächtlichen Schreien und dem Weinen meiner Mutter ausgesetzt zu sein. Ich war auch ziemlich unterernährt, als ich im Heim ankam.
Zwei, drei Monate bestand ein Kontaktverbot zu meiner Mutter, damit ich mich völlig in die neue Umgebung einfinden würde. Das war sehr hart. Der Fernseher, zu dem ich oft eingeschlafen war, das Zuckerbrot meiner Mutter und selbst ihre verrückten Gespräche mit dem "Magier" fehlten mir. Es fühlte sich an wie ein kleiner Entzug. Gleichzeitig lernte ich eine neue Wahrheit kennen, die mir – so würde ich es heute sehen – auch das Leben gerettet hat. Ich lernte, wie die Realität eigentlich aussah und vor allem, dass sich normalerweise Erwachsene um Kinder kümmern, nicht umgekehrt.
Trotzdem habe ich mich jahrelang weiter verantwortlich für meine Mutter gefühlt. Alleine kam sie schlecht zurecht. Etwa ein Jahr nachdem ich auszog, kümmerte sich eine meiner Betreuerinnen um einen Platz im betreuten Wohnen für sie. Im Nachhinein war das ein Glück, denn viele Menschen mit Schizophrenie landen einfach auf der Straße. Auch meine Mutter stand kurz vor dem Rausschmiss, nachdem sie die Wohnung hatte verwahrlosen lassen, die Tapete von der Wand riss (sie dachte, es befänden sich Kakerlaken dahinter) und die Nachbarn nächtelang mit ihrem Gebrüll wachhielt.
Das Problem vieler Menschen mit Schizophrenie ist, dass sie aus dem System fallen. Sie misstrauen Ärzten, weil die ihnen "Gift" verabreichen würden, sie haben Angst vor Behörden, die ihnen das "Geld wegnehmen" wollen und wehren sich oft gegen Hilfsangebote. Am ehesten hört meine Mutter auf mich. Weswegen ich sie auch als Jugendliche weiterhin zu den Ärzten begleitete und regelmäßig prüfte, ob sie genug aß.
Über diese Verantwortung habe ich fast mein eigenes Leben vergessen. Kurz vor dem Abitur hatte ich so viele Fehlzeiten angehäuft, dass ich fast durchgefallen wäre. Es war für mich ein Schlüsselmoment, als ein Betreuer damals zu mir sagte: "Du kannst nicht die Mutter deiner Mutter sein. Du musst dich auf dich fokussieren. Und selbst wenn deine Mutter stirbt, weil sie eine wichtige ärztliche Behandlung verweigert, wäre das nicht deine Schuld."
Es war für mich die schwerste Lektion von allen, zu begreifen, dass ich mich auch um mein Leben kümmern muss. Ich hatte anfangs ein sehr schlechtes Gewissen, aber ich musste mein eigenes Leben in die Hand nehmen. Mein Abitur schrieb ich mit einem Notendurchschnitt von 1,7.
Heute studiere ich Politik und Rechtswissenschaft und kläre als Botschafterin über Schizophrenie auf. Die Gesellschaft weiß immer noch viel zu wenig über diese Krankheit. "Ich bin doch nicht schizo", sagen die Leute oft, wenn sie von einer multiplen Persönlichkeit sprechen, das ist aber etwas ganz anderes. Meine Mutter bleibt immer dieselbe Person, nur die Realität, die sie wahrnimmt, ändert sich.
Sie lebt in einer paranoiden Welt, in der sie permanent Stimmen um sich hat, die sie bedrohen und einfach überall sind. Es tut mir sehr leid, dass sie so viel Angst durchlebt und deshalb ständig unter Stress steht. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlen muss, durchgehend in einem Horrorfilm gefangen zu sein.
Weil diese Wahnvorstellungen für sie real sind, nützt es auch nichts zu sagen: "Das ist doch alles Quatsch. Das stimmt doch gar nicht." Denn sie sieht es. Und sie hört es. Psychisch kranken Menschen ihre Realität abzusprechen, ist kontraproduktiv, denn damit verlieren diese Menschen das Vertrauen. Für mich habe ich herausgefunden, dass es meiner Mutter hilft, wenn ich mich auf ihre Fantasien einlasse, sie aber entschärfe. Dann nehme ich sie in den Arm und sage "Hier können die Mörder jetzt gerade aber gar nicht hinkommen. Das weiß ich." Dann beruhigt sie sich oft schlagartig.
Ich war in meiner Kindheit oft die Erwachsene im Haus. Und auch heute bemerke ich dadurch Unterschiede zu Gleichaltrigen. Ich kann zum Beispiel nicht kurz einen Monat zu meinen Eltern ziehen, wenn es eine Lücke zwischen Auslandssemester und neuem Mietvertrag gibt. Auch den finanziellen Rückhalt muss ich mir alleine erarbeiten.
Die Schauergeschichten meiner Mutter glaube ich schon lange nicht mehr, dennoch bleiben unterbewusst sicher Sachen hängen. Wenn ich heute im Meer schwimmen gehen will, ist mein erster Gedanke immer: Haie! Weil meine Mutter die sogar in Bremer Tümpeln vermutet hat. Wasser ist für sie bis heute ein heikles Thema.
Erst am Sonntag habe ich sie gesprochen und es war ein guter Tag. Wir redeten über viele nette Dinge, aber eine Sache wollte sie dann doch noch loswerden: Nämlich, dass ich aufpassen müsste, ins Wasser zu gehen, weil meine Verwandten da reingepinkelt hätten, damit ich nicht schwimmen könnte...
Es kann sehr anstrengend sein, ihr zuzuhören, aber eines habe ich inzwischen erkannt: Viele ihrer Fantasien drehen sich um meinen Schutz. Sie will vor allen vermeintlichen Gefahren bewahren, weil ich ihre Tochter bin und sie mich sehr liebt. Für diese Liebe – die sie sowohl im Wahn als auch in der Realität zum Ausdruck bringt – werde ich ihr immer dankbar sein.
Ihre Krankheit ändert nichts an der Tatsache, dass sie eine Mutter ist, die sehr lustig und extrem liebevoll sein kann. An guten Tagen erkenne ich auch, was für eine starke Frau sie ist.
Protokoll: Julia Dombrowsky