Nie die neueste Kleidung tragen, nie vom Urlaub erzählen können – immer gefühlt der Letzte in der gesellschaftlichen Hack-Ordnung zu sein. Dieses Gefühl kennen viele Menschen, die in Armut aufwachsen. In Deutschland ist das laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung jedes fünfte Kind. Das sind 2,8 Millionen Kinder.
Eine riesige Zahl, hinter der sich jede Menge Einzelschicksale verstecken, die eines eint: Sie wissen, dass sie auf Dinge verzichten müssen, die für andere selbstverständlich sind. Und dieses Wissen kann in der Seele weh tun. Michael Schulte-Markwort ist Kinderpsychiater und Klinikdirektor am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Er hat täglich mit einkommensschwachen Familien zu tun und spricht im Interview mit watson über Eltern, die sich nicht aus ihrem Problem-Bezirk trauen und schlauen Kinder, die sich dafür schämen, heimlich von einem Studium zu träumen.
Watson: Welche Auswirkungen kann Armut auf die Psyche eines Kindes haben?
Michael Schulte-Markwort: Armut kann Stress auslösen und dieser äußert sich ganz unterschiedlich: Einer bekommt Bauchschmerzen, der andere Schlafstörungen oder Erschöpfungsdepressionen. Kinder werden manchmal auch aggressiv oder wollen nicht zur Schule. Stress ist ein unspezifischer Motor für vielfältige, unspezifische Symptome. Ob Armut ein Kind belastet, hängt aber mit den Eltern zusammen. Wenn Eltern die finanzielle Situation mit einer gewissen Selbstverständlichkeit aufnehmen, bleiben auch die Auswirkungen auf die Kinder gering.
Kinder gewöhnen sich an alles, mit dem sie aufwachsen und empfinden es dann als normal. Dass eine Familie über mehr Geld verfügt als eine andere, wird für Kinder erst bedeutsam, wenn sie auf eine Differenz treffen, also zum Beispiel mit besser situierten Kindern in der Schule in Kontakt kommen. Neid ist erst einmal ein ganz normales Kindergefühl, das auch wohlhabende Kinder kennen. Aber wenn die Differenz groß ist, wird es bei ärmeren Kindern zumindest erste Fragen geben: "Warum fahren wir eigentlich nie in den Urlaub?", "Warum bekomme ich nie Markenkleidung?" Da kommt es entscheidend darauf an, wie Eltern dieses Differenzgefühl auffangen.
Und wie sollten die Eltern das im besten Fall tun?
Wir ermuntern sie immer, ihren Kindern gegenüber keine Schuldgefühle zu haben und versuchen sie dabei zu begleiten, sich mit ihrer prekären Situation zumindest auszusöhnen. Die innere Einstellung ist entscheidend. Wenn die Armut selbstverständlich und ohne Scham oder Wut vermittelt werden kann, tangiert es die Kinder weniger. Das ist aber kein einfacher Prozess und ethisch natürlich auch kompliziert, jemanden zu sagen: "Finde dich mal damit ab, dass du arm bist." Andererseits können wir als Kinderpsychiater nur versuchen, der Psyche zu helfen. Dass das Thema überhaupt so viele Menschen – und eben auch Kinder – in Deutschland betrifft, ist ein Skandal.
Werden die finanziellen Sorgen der Eltern von Kindern denn miterlebt?
Es gibt keine Geheimnisse in Familien. Kinder bekommen alles mit, auch wenn abends über Haushaltsplänen und offenen Rechnungen gebrütet wird. Wichtig ist dabei aber nicht, was die Eltern den Kindern sagen, sondern ihre eigene Haltung zur finanziellen Not. Die transportiert sich, nicht die Worte. Streit und Anspannung der Eltern werden natürlich gespürt, da haben Kinder feine Antennen. Wenn eine Mutter aber sehr gelassen ihrem Kind erklärt: "Du, ich mache hier gerade Sparlisten und schaue nach Sonderangeboten. Schau mal, am Wochenende könnten wir dann doch mal hier einkaufen gehen, kommst du mit?", ist das für ein Kind in Ordnung. Es erlebt, dass das eben so ist, man sich deshalb aber weder fürchten muss, noch an Selbstwert verliert.
Leidet das Selbstbewusstsein nicht automatisch, wenn Kinder durchgehend auf Dinge verzichten müssen, die andere besitzen?
Armut kennt viele Abstufungen. Und viele Kinder aus einkommensschwachen Familien, die ich hier erlebe, verfügen dennoch über ein ganz gesundes Selbstbewusstsein und das ist wunderbar. Aber wenn es Kindern an grundsätzlichen Dingen mangelt, schadet das dem Selbstwertgefühl enorm. Zum Beispiel, wenn ein Kind grundsätzlich nachlässig gekleidet ist, weil es an Waschmittel oder neuer Kleidung fehlt. Dann fragen sich Kinder insgeheim: "Bin ich weniger wert? Habe ich vielleicht keine gute Kleidung verdient?" Das ist ein Defizitgefühl, dass sich gerade in der Pubertät noch verstärkt, wenn die Differenzen zu anderen immer stärker wahrgenommen werden, weil diese beispielsweise Markenklamotten tragen können und man selbst eben nicht. Andere Statussymbole, wie zum Beispiel das Smartphone, spielen sogar schon in der Grundschule eine Rolle. Wobei ich den Eindruck habe, dass gerade in ärmeren Familien darauf geachtet wird, dass neue Handys verfügbar sind.
Arme Kinder leben oft in kleineren Wohnungen in prekären Bezirken der Stadt.
Ja. Und eine enge Wohnung bedeutet fast immer Stress für Kinder, weil der Lärmpegel höher ist und der private Rückzugsraum mitunter nicht gegeben. Eigener Raum ist aber gerade ab der Grundschule wichtig, um sich zu entwickeln, besonders, wenn Intimität im Alter von neun, zehn Jahren entdeckt wird, spielt das eine große Rolle. Auch eine gefährliche Atmosphäre im Viertel kann belasten. Ein kleines Kind, das erfahren muss, dass Größere ihm das Spielzeug wegnehmen oder es schubsen, sobald es auf den Spielplatz gegenüber geht, wird auf zweierlei Arten reagieren: Entweder, es zieht sich vor Angst zurück, oder es schlägt bald selbst zu. Bestimmte Wohnviertel bergen also per se ein gewisses Stresspotential für Kinder. Leider erlebe ich, dass ärmere Familien oft große Hemmungen haben, andere Bereiche der Stadt überhaupt zu erkunden. Es gibt Eltern, die würden niemals Restaurants betreten, selbst wenn sie nicht teuer sind, einfach, weil sie sich dort unwohl und nicht zugehörig fühlen. Das beschränkt den Lebens- und Erfahrungsradius aller Familienmitglieder.
Wie steht es denn um die Bildung? Fühlen sich ärmere Kinder stärker unter Druck, gute Leistungen zu erbringen, um sich aus der Armut herauszuarbeiten?
Sowohl als auch. Auch hier spielt das Elternhaus eine entscheidende Rolle. Es gibt Eltern, die dem Kind sagen: "Mach Abi und studiere, damit du es besser hast als ich." Aber eben auch: "Abi? Was für ein Quatsch. Hab ich auch nie gebraucht." Die meisten einkommensschwachen Kinder eint allerdings, dass ihre Familien auch bildungsfern sind und sie unter erschwerten Bedingungen im Klassenraum sitzen: Sie müssen ihre Hausaufgaben allein bewältigen und allein für Klausuren lernen, sind einfach schlechter gefördert als die anderen.
Trotzdem gibt es Kinder, die unheimlich schlau sind und sich aus ihrer sozialen Schicht durch Bildung herausarbeiten. Das führt in der Jugend oft zu Schuldgefühlen gegenüber den Eltern, mit denen man bestimmte Themen gar nicht mehr besprechen kann, weil diese sie nicht verstehen. Kinder lieben ihre Eltern und wollen ihnen nicht fremd werden, aber das passiert automatisch, wenn der Familienrahmen verlassen und zum Beispiel ein Studium angestrebt wird, während die Eltern das Universitätsleben so gar nicht kennen. Wir nennen dieses Phänomen Ausbruchsschuld.
Und wie legt man diese Ausbruchsschuld ab?
In der Begleitung solcher Jugendlichen kann man leider nur sagen: Diesen Zustand muss man lernen, auszuhalten. Auch hier kommt es sehr stark darauf an, wie die Eltern zu dem Aufstieg des Kindes stehen. Manche sind zu Recht sehr stolz und freuen sich über die neuen Chancen. Aber auch die Skepsis kann sehr ausgeprägt sein. Da heißt es dann: "Du willst Arzt werden? Was bildest du dir ein? Glaubst du, du bist besser als wir?" Solch familiärer Gegenwind ist natürlich belastend.
Schämen sich Kinder vor Gleichaltrigen für ihre Armut?
Wenn ihnen von den Eltern suggeriert wurde, dass man sich dafür schämen muss, dann schon. So eine Scham äußert sich dann, indem das Kind sich zurückzieht, soziale Begegnungen meidet. Die sozialen Netzwerke wie Instagram tragen auch zu diesen Gefühlen bei: Dort sind alle schick und schlank, in schöner Kleidung an exotischen Reise-Spots – viele Jugendliche, besonders Mädchen, fühlen sich davon sehr unter Druck gesetzt. Allerdings nicht nur solche aus prekären Verhältnissen, sondern auch wohlhabende. Ob man sich von diesen vermeintlich erfolgreicheren Menschen überholt fühlt, ist also eher eine Frage des eigenen Selbstwerts, nicht des Einkommens.
Sind wohlhabende Kinder also genauso stark psychisch belastet wie arme?
Ich habe da einen verstellten Blick, da ich ja nur psychisch belastete Kinder erlebe. Beim Belastungsniveau sehe ich aber tatsächlich keine Unterschiede. Wenn die Eltern sich einen bitteren Rosenkrieg liefern, unter dem das Kind leidet, hilft auch die Million auf dem Konto nicht. Reiche Kinder stehen oft auch unter einem noch stärkeren Leistungsdruck in der Schule, von ihnen wird mindestens ein gutes Abi erwartet.
Allerdings haben Kinder aus bildungsnahen Familien einen Vorteil: Ihre Eltern holen sich schneller kinderpsychiatrische Hilfe, wenn es nötig wird und nutzen dabei auch ihre guten Kontakte. Die medizinische Versorgung ist also durchaus schichtabhängig. Das ist natürlich bitter, weil wir wissen, dass die Mitglieder armer Familien insgesamt öfter unter Krankheiten leiden, auch rein körperlichen, die wiederum mit psychischen Belastungen korrelieren.