Man könnte natürlich alle Einschätzungen der Wissenschaft bemühen, um die Frage zu beantworten: Warum fallen uns Entscheidungen manchmal so schwer? Warum fühlt es sich ab und an so an, als ob wir gelähmt sind? Mir jedenfalls geht es immer wieder so. Und ich bin mir sicher, das ist bei wirklich jedem irgendwann der Fall.
Die übelsten Widersacher der Entscheidungsfindung sind meist Kopf und Bauch. Diese beiden Gesellen sind wie Engelchen und Teufelchen, sie kämpfen miteinander und wir müssen gefühlt warten, bis einer von beiden den Fight gewonnen hat. Erst dann sind wir nicht mehr in Schockstarre, erst dann können wir uns entscheiden. Am Ende ist es dann eine Typ-Sache. Sind wir eher Bauch- oder Kopfmensch?
Unsere Familie war immer sehr vom Bauch gesteuert. Als Kind lernte ich recht schnell, dass Entscheidungen getroffen werden mussten. Es wurde von mir regelrecht verlangt, mich für A oder B zu entscheiden. Und ganz ehrlich? Anfangs war ich viel zu jung, viel zu klein, um dieser Forderung nachzukommen.
Ich wuchs die ersten Lebensjahre bei meinen Großeltern auf. Hier wurde quasi alles aus dem Bauch raus entschieden. Im zarten Alter von sechs Jahren sollte ich mich entscheiden, ob ich lieber bei meinen Großeltern bleiben wollte oder ob ich doch lieber bei meinem Vater leben mochte.
Ich weiß noch genau, wie sich die Lähmung anfühlte. Wie ich komplett im Zwiespalt war. Ich liebte meine Großeltern über alles und ich war glücklich bei ihnen. Ich konnte mir so gar kein Leben, gar keinen Alltag ohne sie vorstellen. Auf der anderen Seite würde ich meinen Vater unendlich enttäuschen, wenn ich mich gegen ihn entschied. Ich weiß noch sehr genau, wie ich auf Großmutters Schoß saß und ihr meine Entscheidung mitteilte: "zu Papa". Und schon im Moment der Entscheidung wusste ich, dass sich das nicht richtig anfühlte.
Ich wollte ihn nicht verletzen, nur deshalb bekam er den Zuschlag. Was dann folgte, war fürchterlich. Es kam der Tag, an dem ich Lebewohl sagen musste. Es flossen unendlich viele Tränen. Wieder saß ich auf dem Schoß meiner Großmutter, weinte und wollte nicht weg. Sie weinte ebenfalls, dicke Tränen strömten ihre Wangen herunter und wurden durch ihren roten Rollkragen Pullover aufgefangen. Großvater trocknete sich stumm seine Tränen. Er kam gar nicht klar. Ich hatte die Entscheidung aus dem Bauch heraus getroffen. Und nochmal: Ich war selbstverständlich viel zu klein dazu. Noch heute frage ich mich: Wie kann man sowas von einem Kind fordern?
Bis heute treffe ich fast alle Entscheidungen aus dem Bauch heraus und bin damit im Grunde sehr gut gefahren. Der Grundstein wurde in den Armen meiner Großmutter gelegt. Ich wurde praktisch dazu erzogen, mich zu entscheiden. Heute bin ich froh darüber.
Oftmals habe ich versucht, zu verstehen, warum es mir so schwer gefallen ist, mich für ein anderes Leben zu entscheiden. Es war schlicht die Konsequenz, die ich tragen musste. Egal wie, ich würde einen geliebten Menschen verletzen müssen. Das war mir damals schon klar und das machte mich fertig. Bis heute habe ich ein schlechtes Gewissen, denn ich weiß, dass meine Großeltern sehr gelitten haben. Für sie war ich wie ihr Kind. Und das entschied sich gegen sie. Die Konsequenz konnte ich damals nicht tragen und doch: Heute kann ich das wirklich gut.
Man könnte auch sagen: Ich habe sehr früh angefangen, Entscheidungen zu treffen. Somit hatte ich also genug Zeit, zu trainieren. Und es war ein unfassbar hartes Training. Denn immer ist eines klar: Jede Entscheidung zieht unmittelbar eine Konsequenz nach sich. Viele von uns werden schlicht mit Werten erzogen. Dazu gehört unter anderem meistens: Wir verletzen niemanden, wir gehen rücksichtsvoll miteinander um, wir haben Respekt vor anderen Menschen, wir sind nicht egoistisch. Alleine diese Werte reichen, um uns die Entscheidungsfreudigkeit zu nehmen. Denn alleine, wenn wir nur diese Werte leben, kommen wir automatisch in eine Art Zwiespalt.
Ich halte es für falsch, wenn Kindern Entscheidungen immer und immer wieder abgenommen werden. Denn dann lernen sie nicht, ihre eigenen zu treffen. Natürlich muss man nicht so früh anfangen, wie es von mir verlangt wurde. Dennoch gehören Entscheidungen zu unserem Alltag dazu. Und je früher wir lernen, sie zu treffen, desto besser können wir später damit umgehen.
Egal ob wir Bauch- oder Kopfmenschen sind, eines ist für mich über die Jahre recht klar geworden: Es ist besser eine falsche Entscheidung zu treffen als gar keine. Nur indem man Entscheidungen trifft, immer wieder, erlangt man darin mehr Sicherheit. Trifft man zu oft keine, um anderen Menschen zu gefallen, wird man eines Tags spüren, dass man auf der Stelle tritt.
In den vergangenen Monaten spürte ich etwas, was mich wirklich krank machte: Eine totale Entscheidungs-Blockade. Es ging ein Stück weit um meine Lebensplanung. Und damit verbunden auch die Überlegung, wie und wo ich nun leben wollte. Ich war nicht fähig, eine Entscheidung zu treffen. Das blockierte mich, aber auch alle Beteiligten. Selbstverständlich hatte die Nicht-Entscheidung auch eine Konsequenz: schlechte Stimmung, Debatten und in wahrsten Sinne des Wortes: Bauchschmerzen.
Oft unterschätzen wir komplett unseren Körper. Er reagiert auch physisch auf das, was seelisch blockiert ist. Ein schlimmer Teufelskreis, der am besten gar nicht erst angeschoben werden sollte. In meinem Fall dauerte der Entscheidungsprozess einfach viel zu lange, bis sich meine inneren Organe mehr und mehr meldeten. Das ist vielleicht auch das Los des Bauchmenschen. Ungefiltert poltert alles in die Magengegend. Findet dies über einen längeren Zeitraum statt, kann das ernsthafte Schäden verursachen.
Hier ist also noch eine wichtige Entscheidung: Entweder Entscheidungen treffen, auch wenn sie im Nachhinein falsch sein könnten, oder weiter rumeiern und dadurch vielleicht seelisch sowie physisch darunter leiden.
Diese Kolumne ist für Omas Tränen.