Vielleicht gleich mal ein richtiges Brett am Anfang: Die Zahl der beruflichen Fehltage wegen psychischer Erkrankungen ist in den vergangenen zehn Jahren um mehr als die Hälfte gestiegen. Das besagt der Psychreport der DAK-Gesundheit von 2024. Damit sind psychische Erkrankungen auf Platz drei der Erkrankungsgruppen mit den meisten Ausfalltagen einzuordnen: direkt nach Erkrankungen des Atmungssystems und Muskel-Skelett-Erkrankungen.
Die Bedeutung der psychischen Erkrankungen für den Krankenstand ist also hoch. Erstaunlich und gleichzeitig gut und hilfreich daran ist, dass Menschen augenscheinlich mehr und mehr dazu stehen, dass sie an psychischen Erkrankungen leiden. Und in vielen Fällen resultieren diese aus den Verhältnissen am Arbeitsplatz.
Hinter den stumpfen Fehlzahlen stecken oft gravierende, menschenverachtende Gründe. Schicksale, die hinter dem cleanen Zahlenwerk einfach verschwinden, sie laufen mit in die Statistik ein.
Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber in meinem Umfeld kann ich sagen, dass mindestens 20 Prozent massive Probleme im Job haben, unter Bedingungen arbeiten, die für die Seele alles andere als gesund sind.
Darunter sind auch Mobbingopfer. Drei von zehn Deutschen wurden bereits am Arbeitsplatz gemobbt, Frauen häufiger als Männer. Das geht aus einer YouGov-Umfrage in Kooperation mit Statista zum Thema Mobbing am Arbeitsplatz hervor. Mehr und mehr Menschen wehren sich dagegen. In einigen Fällen nutzen sie zum Beispiel auch die rechtlichen Möglichkeiten, was längst überfällig war.
Ich habe selbst eine solche Geschichte in meiner Familie erlebt. Es ist ein Einzelschicksal, das auch hinter der hohen Zahl der Krankmeldungen steht – und es zeigt, wie schmerzhaft die Situation für Betroffene sein kann.
Über mehrere Jahrzehnte hinweg wurde eine meiner Verwandten am Arbeitsplatz quasi täglich gemobbt. Erst kurz vor ihrer Rente öffnete sie sich. Immer wieder fragten wir uns, warum sie schon wieder unbezahlten Urlaub nahm, warum sie von einer Therapie in die nächste ging. Sie war gefühlt jedes Jahr zur Kur.
Natürlich sprachen wir sie als Familie immer wieder an, die Sorge war groß. Drei Wochen vor ihrem Vorruhestand erzählte sie uns die ganze Geschichte.
Kolleg:innen beleidigten sie wegen ihres Körpers, sie nötigten sie, streuten gezielt Geschichten über sie. Üble Nachrede heißt das. Sie traute sich immer weniger, in der Firma zu erscheinen. Eine Kündigung hätte sie als Niederlage empfunden. Deshalb blieb sie.
Ihre Ärztin zog dann die Notbremse: "Wenn Sie nicht in den Vorruhestand gehen, übernehme ich keine Garantie. Es geht nicht darum, ob Sie aufhören können, Sie müssen. Tun Sie es nicht, könnten Sie so krank werden, dass Sie an den Folgen sterben. Sie haben den Zeitpunkt deutlich überschritten, jetzt ist Ihr Verhalten lebensgefährlich", sagte sie bei ihrem letzten Besuch.
Bei einem langen Spaziergang sprachen wir sehr offen miteinander, sehr nah. Ich konnte deutlich ihren Schmerz fühlen.
"Es wird dir wahrscheinlich nicht viel helfen, aber Mobbing ist unter gewissen Umständen eine Straftat, die entsprechend hart geahndet wird", sagte ich ihr. Die Rechtsprechung ist hier recht klar: Mobbingopfer können und sollten sich rechtlich wehren. Wenn man durch Mobbing erkrankt, und der Arzt dies bestätigt, kann der Tatbestand der Körperverletzung vorliegen. Weitere Straftaten in Verbindung mit Mobbing: Nötigung, Verleumdung und Beleidigung.
Zu viele Opfer scheuen sich davor, den Rechtsweg zu gehen. Aber er ist eigentlich unumgänglich. Wenn wir hier etwas verändern wollen, müssen einfach mehr Menschen aufstehen, mutig sein, klar sein. Praktisch niemand weiß, um die strafrechtliche Einordnung. Zu "normal" ist es, dass in deutschen Büros gemobbt wird.
So könnte man weitere Geschichten hinter den Zahlen beschreiben. Schicksale, die selten jemand sieht. Fehlzeiten sind zunächst Kennzahlen, die bei Unternehmen wirtschaftlichen Schaden erzeugen.
Welcher Totalschaden bei den einzelnen Menschen jedoch in Sachen Mental Health auf der Uhr steht, ist gar nicht zu beziffern.
Jede einzelne Geschichte hat ihre Fehlzeit. Jede einzelne Geschichte kann aber nicht die Zeit beschreiben oder beziffern, die Betroffene brauchen, um den Schmerz zu verarbeiten. Es geht nur mit Mut zur Aufklärung. Wir müssen mit mehr Klarheit gegen Täter:innen vorgehen.