
Die Stadt ohne Verkehrslärm: Pontevedra in Spanien.
Mobilität & Verkehr
Berlins Verkehrssenatorin Regine Günther träumt
von einer Hauptstadt ohne Autos. "Wir möchten, dass die Menschen ihr
Auto abschaffen", sagte die Klimaexpertin jüngst. Eine Utopie? Ein
Blick nach Spanien zeigt, dass eine solche ebenso ehrgeizige wie
umstrittene Vision nicht unbedingt Wunschvorstellung bleiben muss. In
der Provinzhauptstadt Pontevedra im Nordwesten des Landes kommen die
Menschen seit 20 Jahren fast immer ohne Wagen aus. 1999 wurde der
Autoverkehr dort weitgehend aus der Innenstadt verbannt.
Bewohner sprechen von einem "Paradies". Besucher wie der Journalist
Stephen Burgen vom britischen "Guardian" stellen verwundert fest,
dass die Menschen in der galicischen Stadt auf den Straßen "nicht
schreien" (müssen), dass ungewöhnlich viel miteinander geredet und
gelacht wird und dass man "das Zwitschern der Vögel inmitten der
Kamelien" und "das Klirren der Löffel in den Kaffeetassen" hört.
Bürgermeister Miguel Anxo Fernández Lores sagt:
"Bei uns ist der Fußgänger König."
dpa
Motorenlärm ist im modernen, städtischen Leben kaum wegzudenken. In
immer mehr deutschen Städten drohen zwar Fahrverbote, in einigen
wurde sie schon durchgesetzt. Seit Montag dürfen in Stuttgart Diesel-Fahrzeuge mit Euro-Norm-4 oder schlechter nicht mehr in der Innenstadt fahren.
Aber wäre im "Autoland" eine so radikale Verbannung wie in Pontevedra
überhaupt mach- oder durchsetzbar? Bürgermeister Fernández Lores ist
davon überzeugt, dass viele Teile seines Konzepts auch von den
großen Metropolen kopiert werden können.
Doch wie funktioniert es in Pontevedra?
Im Zentrum der Stadt am
"portugiesischen Jakobsweg" und dem Atlantischen Ozean sieht man
heute zwar hier und da noch Autos, aber nur wenige. Es sind
Lieferwagen sowie Fahrzeuge von Anwohnern und des öffentlichen
Nahverkehrs. Für sie alle gilt seit dem Jahr 2010 Tempo 30. Es gibt
kaum Ampeln und Verkehrszeichen und nur selten klar definierte
Fahrbahnen und Radwege, denn der Fußgänger hat in der gesamten
Altstadt mit den vielen religiösen und anderen Gebäuden aus den
Epochen der Gotik, der Renaissance und des Barocks immer Vorrang.
Das System funktioniert unter anderem auch deshalb, weil an den
Zufahrtsstraßen zum Zentrum rund 15 000 Parkplätze geschaffen wurden,
von denen über die Hälfte gratis sind. In der Innenstadt gibt es
nochmal eintausend Parkplätze, die man kostenlos, aber nur für
höchstens 15 Minuten benutzen darf, wenn man als Anwohner oder
Lieferdienst größere oder schwerere Dinge verladen muss.
Wo es früher in der Innenstadt Parkplätze gab, entstanden im Laufe
der Jahre viele Sport- und Spielplätze sowie Grüngebiete.
Hinweistafeln, die an U-Bahn-Streckenpläne erinnern und "Metrominuto"
heißen, zeigen, wie weit es zu den 30 wichtigsten Punkten der Stadt
ist und wie lange man bis dahin zu Fuß braucht.
Bewohnerin Raquel García sagt:
"Ich habe in Madrid und anderen Städten gewohnt. Das hier ist für mich wie das Paradies."
guardian/dpa
Auch bei Regen (und in Galicien fällt viel
Wasser vom Himmel) unternehme sie alles zu Fuß. Die Zufriedenheit
wird von Zahlen untermauert: Die CO2-Emissionen gingen nach Angaben
der Stadt zwischen 1999 und 2014 um 67 Prozent zurück. Seit 2007 gibt
es in den verkehrsberuhigten Stadtbereichen keinen einzigen
Verkehrstoten mehr. Zwischen 1999 und 2006 waren es 30.
Mehr Zahlen: Während die Berliner 2018 nach Berechnungen des
Verkehrsdatenanbieters Inrix im Schnitt 154 Stunden durch dichten
Verkehr und Stau einbüßten, werden in Pontevedra über 90 Prozent
aller Einkäufe zu Fuß getätigt. Rund 80 Prozent aller Schüler gehen
zu Fuß zum Unterricht. Mehr als zwei Drittel (71 Prozent) aller
Fortbewegungen geschehen zu Fuß oder mit dem Rad. Die Zahl der
Fahrzeuge ging in der Innenstadt von 80 000 auf 7000 zurück.
Leicht war der Weg keinesfalls.
"Die PP", das ist die konservative
Volkspartei, "ist gegen unsere Pläne sogar vor Gericht gezogen",
erzählt der Bürgermeister. "Da es keine Präzedenzfälle gab, hatten
zudem viele Menschen aufgrund der Unkenntnis Angst vor den
Neuerungen."
Jene Ladenbesitzer, die anfangs noch in relativ großer Zahl
protestiert und geschimpft und eine Senkung ihrer Einnahmen
befürchtet hatten, reiben sich heute die Hände. Dazu gehört Miguel
Lago. Er sei sehr skeptisch gewesen, räumte Lago gegenüber der
Zeitung "El País" ein. Inzwischen wisse er aber:
"Wichtig ist vor allem, wie viele Menschen zu Fuß an deinem Laden vorbeigehen."
Miguel Lagodpa
In
kaum einer anderen Stadt Spaniens entstanden am Stadtrand und in den
Vororten so wenige großflächige Einkaufszentren wie hier.
Die Menschen in Pontevedra seien glücklicher und gesünder als vor 20
Jahren, versichert Bürgermeister Fernández Lores.
"Es ist offensichtlich, dass man in einer Umwelt mit weniger Stress, Verschmutzung, Aggressivität und Verkehrsgewalt mehr vom Leben hat und gesünder lebt."
Fernández Loresdpa
Der 64 Jahre alte Arzt, der bei seinem
Amtsantritt vor zwei Jahrzehnten sofort gegen den damaligen
weltweiten Strom schwamm und Verkehrsreformen in die Wege leitete,
muss in der Tat vieles richtig gemacht haben. Denn der Politiker der
links-grünen Partei Nationalistischer Galicischer Block (BNG) wird
seitdem in der einst erzkonservativen Stadt immer wieder
zum Rathaus-Chef gewählt.
Viele Kollegen von Fernández Lores werden sagen: "In einer Stadt mit 83 000 Einwohnern ist das alles kein Kunststück."
Und vielleicht
behaupten, dass das Modell nicht auf größere Städte übertragbar sei.
Aber nicht alle denken so. Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo
war beim Forum Smart City in der französischen Hauptstadt von den
Ausführungen des Arztes im vorigen November so überwältigt, dass sie
den Spanier als "Bahnbrecher" bezeichnete.
Hidalgo, die ihre Stadt bis 2030 von Autos mit Verbrennungsmotoren
komplett befreien möchte, stellte auch einen Besuch in Pontevedra in
Aussicht und sagte, sie wolle von Fernández Lores und der Stadt so
viel wie möglich lernen. Nicht nur Jakobspilger, sondern immer mehr
Stadtplaner geben sich inzwischen im mehrfach ausgezeichneten
Pontevedra die Klinke in die Hand.
Im Rathaus von Pontevedra sagt man:
"Unsere Philosophie sollte unverändert auch von größeren Städten, mit Einsatz von U-Bahnen und Bussen übernommen werden"
dpa
Fernández Lores ruht sich derweil auf den Lorbeeren nicht aus. Es
gebe immer neue Herausforderungen und Ziele. "Wir sind gerade dabei,
das Modell in die gesamte Provinz Pontevedra, die 900 000 Einwohner
hat, zu exportieren", erzählte er der dpa. Außerdem würden in seiner
Stadt ständig neue Straßen von Autos befreit. "Der Prozess der
Stadtverbesserung geht nie zu Ende."
(dpa)
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