Linda ist seit vielen Jahren in Therapie.Bild: privat
Nah dran
Einige Menschen sammeln bei Tiktok Likes mit kurzen Tänzen – andere mit der nackten Wahrheit. So wie Linda.
Die 26-Jährige aus Sachsen lebt mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und spricht vor ihren 35.000 Follower:innen darüber, was das eigentlich heißt: Schlagartige Gefühlswechsel, Selbstzweifel, Suizidgedanken und bleierne Erschöpfung, die einen kaum ins Bad gehen lässt.
Für watson erzählt Linda, wie es sich anfühlt, mit dem eigenen Kopf zu kämpfen und warum sie darüber spricht, obwohl es sie ängstigt – ein Protokoll:
"Ich bin seit Anfang 2021 in ambulanter therapeutischer als auch wiederholend stationärer Behandlung. Meine Diagnosen: Borderline-Persönlichkeitsstörung, Depression, atypische Anorexia nervosa, dissoziative Amnesie und schädlicher Missbrauch durch Alkohol.
"Gut zu wissen, dass ich krank bin und nicht 'einfach' nur ein schlechter Mensch."
Die Diagnose habe ich nach meinem ersten stationären Aufenthalt von August bis November 2021 erhalten. Es war erleichternd, meinen Problemen einen Namen geben zu können. Man fühlt sich nämlich oft, als wäre man verrückt, faul, oder das letzte Arschloch auf der Welt und wundert sich, was falsch an einem ist.
Deshalb war es gut zu wissen, dass ich krank bin und nicht 'einfach' nur ein schlechter Mensch. Ich kann nichts dafür. Und – der Satz ist immer noch schwer für mich auszusprechen – ich bin nicht selbst daran Schuld.
Borderline bedeutet ein emotionales Auf und Ab in Sekunden
Das größte Missverständnis, das Menschen über Borderliner:innen haben, ist, dass sie sich einfach 'nur' ritzen und unfassbar toxisch sind.
"Es fühlt sich an, als würde ich auf richtig dünnem Eis laufen."
In Wirklichkeit ist jeder einzelne Tag ein Kampf. Selbst wenn ich gut gelaunt aufwache, kann es sein, dass eine Kleinigkeit passiert und meine Stimmung kippt. Wenn ich schlecht gelaunt aufwache, kann es genauso sein, dass irgendwas Schönes passiert und auf einmal fühle ich mich wie die selbstbewussteste Frau auf Erden.
Es fühlt sich an, als würde ich auf richtig dünnem Eis laufen, das jeden Moment einbrechen und ich im Wasser versinken könnte. 'Wie auf Eierschalen laufen' trifft es auch ganz gut. Jeder Moment ist instabil und meine Stimmung kann von einem Extrem ins nächste wechseln, innerhalb von Sekunden. Es ist schlimm.
Wenn es mit dem Gedankenkarussell wieder losgeht, helfen mir nur noch Skills. Skills sind Fertigkeiten, die Borderlinern helfen, die Gedanken entweder zu entschleunigen oder ihre Anspannung zu reduzieren. Zum Beispiel trage ich eine brennende Creme auf oder dusche eiskalt.
"Mir hat letztens jemand geschrieben, ich solle 'es mal mit einem Strick versuchen'. Das tut weh."
Ich hab zu Hause eine Liste mit Skills hängen, die der jeweiligen Anspannung zugeordnet sind. Wenn meine Gedanken losgehen, muss ich nur draufschauen und blind die Liste abarbeiten, ansonsten verschlimmert sich mein Zustand sehr schnell.
Auf Tiktok hagelt es Zuspruch, aber auch Hass für Betroffene
Ich wollte schon immer was machen, um Menschen zu helfen. Und über Tiktok kann ich Menschen zeigen, dass sie nicht allein sind. Das fühlt sich schön an.
Allerdings ist es auch gruselig, in der Öffentlichkeit so ehrlich mit meinen Erfahrungen umzugehen. Vor allem, weil ich mich immer noch für meine Gefühle schäme, denke, dass andere denken, ich erfinde sie nur – ein typisches Symptom. Ich habe auch Angst vor krassen Hater-Kommentaren.
Mir hat letztens jemand geschrieben, ich solle 'es mal mit einem Strick versuchen'. Das tut weh, egal wie sehr man sich einredet, dass es nichts bedeuten muss.
Fühlst du dich verzweifelt?
Telefonseelsorge: Unter 0800 – 111 0 111 oder 0800 – 111 0 222 erreichst du rund um die Uhr Mitarbeiter:innen, mit denen du sprechen kannst. Auch ein Gespräch via Chat oder E-Mail ist möglich.
Kinder- und Jugendtelefon: Der Verein "Nummer gegen Kummer" kümmert sich vor allem um Kinder und Jugendliche. Erreichbar montags bis samstags von 14 bis 20 Uhr unter der Rufnummer 116 111.
Krisenchat: Bei Krisenchat kannst du dich per Whatsapp rund um die Uhr an ehrenamtliche Berater:innen wenden. Das Angebot richtet sich an Menschen bis 25 Jahre.
Ich habe Suizidgedanken und spreche offen darüber. Ich will die Realität zeigen, und diese Gedanken sind leider ein chronischer Teil davon. Ändern tut das Posten nichts. Liebevolle Kommentare sind total toll, aber wenn man in dem Film dieser Gedanken ist, kann man sich nur selber stoppen.
Wenn eine Borderlinerin verliebt ist, wird die Person idealisiert
Wenn ich in den letzten Jahren sehr glücklich war, war das beim Idealisieren meiner 'favorite person', der sogenannten 'fp'. Das ist ein Teil der Störung. Man idealisiert eine Person, von der man dann abhängig ist oder wird.
"Wenn was schiefging in der Liebe, war mein gesamtes Leben sinnlos."
Die Männer in meinem Leben waren immer meine 'fp'. Mein ganzer Tagesablauf hat sich nach ihnen gerichtet, meine Stimmung war von ihnen abhängig – und damit leider auch meine Lebenslust.
Wenn es gut lief, war ich wirklich überglücklich. Es fühlte sich dann so an, als wäre einfach alles völlig okay, solange diese eine Person in meiner Nähe ist. Wenn aber was schiefging in der Liebe, war mein gesamtes Leben sinnlos.
Ich hatte bisher nur eine feste Beziehung, und die war ungesund. Daran zu denken, macht mir immer noch zu schaffen, weil da so viel Ambivalenz dem Thema und dem Mann gegenüber existiert, dass ich auch heute noch keinen richtigen Abschluss finden konnte. Dabei ist die Trennung jetzt fast zwei Jahre her.
Borderline: Sprunghaftigkeit ist ein typisches Symptom
Ich bin sehr sprunghaft, was sich in Hobbys bemerkbar gemacht hat. Wenn ich an einem Tag entdeckt habe, dass ich gern nähe, muss ich alles dafür kaufen, damit es 'richtig' losgehen kann. Am nächsten Tag hat mich aber Fotografie interessiert, also musste ich dafür alles haben. Super extrem. Ich hab Glück, dass ich Fotografieren immer noch liebe, denn ich habe damals in kürzester Zeit mehrere tausend Euro für Ausrüstung ausgegeben.
Leider führt die Ungeduld und Sprunghaftigkeit oft dazu, dass ich selten etwas fertigbringe: Wenn ich an einem Tag hoch motiviert bin, fange ich an. Bin aber am nächsten Tag depressiv, höre ich wieder auf. So ist das immer, mit allem.
Freundschaften sind auch schwer. Oft fokussiere ich mich auf eine Person und verliere dabei eine alte Freundschaft. Ich habe aber mit meiner besten Freundin einen Vertrag aufgesetzt, der gegen unsere Muster (Anm. der. Red. Verhaltensmuster als Borderlinerin) arbeiten soll. Das klappt bisher ganz gut, und ich bin super froh darüber. Sie zu verlieren, kann ich mir nicht vorstellen.
"Du übertreibst": Betroffene erleben Unverständnis aus dem Umfeld
Meine Familie und Freunde haben viel Verständnis. Ich weiß, dass viele dieses Glück leider nicht haben. Es gibt immer noch viel zu viele Menschen, die Sprüche heraushauen wie:
- 'Du bist faul'
- 'Du musst nur mal arbeiten gehen'
- 'Das ist nur eine Phase'
- 'Reiß dich mal zusammen'
- 'Du übertreibst'
- 'Du bist verrückt'
- 'Du brauchst nur 'ne Beziehung'
- 'Geh mal an die frische Luft'.
Dass man eine Tagesstruktur braucht, verneine ich nicht, das hilft enorm. Aber mit einem Job ist die Erkrankung und Störung nicht geheilt. Ich selbst habe fünf Jahre in der Gastronomie gearbeitet und bin mit kurzer Pause seit Sommer 2021 krankgeschrieben.
Und 'zusammenreißen' kann man sich mit psychischen Erkrankungen auch nicht. Eine Liebesbeziehung verstärkt die Borderline-Persönlichkeitsstörung meistens und an frischer Luft verpuffen die Symptome auch nicht.
Das Schlimme ist, dass Betroffene selbst sich schon nicht ernst genug nehmen und glauben, sie würden sich anstellen. Gerade deshalb würde es helfen, wenn das Umfeld die Betroffenen ernst nimmt, sodass 'wir' es selbst irgendwann auch können. Ergibt das Sinn?
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Was ich mir für mein Leben erträume, kann ich nicht sagen. Ich hab große Schwierigkeiten, so weit in die Zukunft zu schauen und auch Angst davor, mir etwas zu wünschen. Tatsächlich ist es sogar schwer für mich, die nächsten sechs Monate zu sehen.
Ich versuche lieber, Tag für Tag zu bewältigen. Ich fange bald einen Fotografie-Kurs an, wünsche mir, dass ich einen Minijob bekomme und den hoffentlich packe. Im April ist mein nächster stationärer Aufenthalt geplant – das ist wohl gerade mein nächstes Ziel."