"Das erste Mal, dass ich von alternativen Beziehungsmodellen gehört habe, war mit Ende zwanzig", erzählt Selina. In dieser Zeit steckte sie in einer langjährigen und monogamen Beziehung mit einer anderen Frau. Sie erfuhr über Social Media von dem Konzept der offenen Beziehung. Sie erinnert sich: "Bis zu dem Zeitpunkt habe ich gedacht: Wenn man eine Beziehung führt, dann ist diese monogam." Das war einfach so.
Dass sie bisexuell ist, wusste Selina hingegen schon immer, sagt sie. "Gegen Ende meiner zwanziger Jahre wurde das Bedürfnis immer größer, auch wieder Intimität mit einem Mann zu spüren", erinnert sie sich zurück. Dennoch war sie glücklich und verliebt in ihrer Beziehung mit einer Frau und wollte sie nicht gefährden. Sie behielt ihren Wunsch nach anderweitiger Intimität lange für sich. "Ich wusste, dass dieses Thema in meiner früheren Partnerschaft keinen Raum hat." Nach acht Jahren ging die Beziehung in die Brüche. "Danach war mir klar, dass ich nicht nochmal in einer monogamen Beziehung leben möchte."
Auch Jenni war vorher in Beziehungen mit Männern und Frauen, bevor sie Selina traf – mit der sie dann auch ihre erste offene Beziehung führen sollte: "Wir haben die Reise zusammen begonnen", sagt sie.
Statt sich zu Beginn der Beziehung langsam an das Thema heranzutasten, sprach Selina gleich Klartext: "Als ich gemerkt habe, dass es was Ernstes sein kann, habe ich ihr direkt gesagt, dass ich mir keine monogame Beziehung mehr vorstellen kann." Als polyamor bezeichnet sich Selina aber nicht: "Ich empfinde Liebe nur für einen Menschen, aber meine körperlichen Bedürfnisse sind so ausgeprägt, dass ich auch mit anderen Menschen – auch Männern – schlafen möchte."
"Ich war überrumpelt", erinnert sich Jenni. Gerade weil die beiden in der anfänglichen Verliebtheit stecken, fiel es der 37-Jährigen schwer, zu begreifen, wieso Selina noch anderweitig intim sein wollte. Das Thema gleich zum Start der Beziehung anzusprechen, war für Selina hingegen selbstverständlich: "Ich wollte nicht monatelang warten, um es anzusprechen."
Der Grund: Sie wollte vermeiden, dass es etwas ist, worauf sich ihre Partnerin aus Liebe zu ihr einlässt. Selina wünschte sich eine von Beginn an bedürfnisorientierte Beziehung. Und die erfordert klare Tatsachen: "Rückblickend war das die beste Entscheidung für unsere Beziehung."
Gleich zu Beginn datete Selina einen Mann. Das Paar beschreibt diese Phase als "Schubs ins kalte Wasser". Jenni musste mit einem für sie unbekannten Gefühl kämpfen. Aber auch für Selina war es anfangs befremdlich: "Ein Sex-Date mit einem anderen Menschen, außerhalb der Beziehung, fühlt sich schon komisch an", erinnert sie sich heute: Irgendwie kam es ihr doch vor wie ein Betrug.
Von alten Denkmustern musste sie sich erst verabschieden Jenni lernte in dieser Zeit, so sagt sie heute, Eifersucht auszuhalten: "Wir wollten uns ganz viele Freiheiten geben, dabei aber auch gewährleisten, dass wir uns auch miteinander frei und glücklich sind, auf allen Ebenen." Deswegen setzten sich die beiden Frauen nach Selinas erstem Date zusammen, sprachen ganz frei miteinander.
"Wir fragten: Wie geht's dir? Wie geht's mir?", erzählen Selina und Jenni. Aus den Antworten formten sie die Basis ihrer Beziehung. Sie setzten Grenzen fest, trafen Vereinbarungen. "Wir nennen es nicht Regeln, weil wir ja nicht über den anderen bestimmen", erklärt Selina.
Trotz der offenen Kommunikation gab es Unruhe in der Beziehung. Nach ungefähr drei Monaten schlossen sie ihre Beziehung, legten eine Pause ein – zumindest für das offene Modell. Das Ziel war es, erst alle Unruhen und Ungereimtheiten zu klären. "Wir hatten unterschiedliche Vorstellungen, wir mussten erst schauen, dass wir einen Kompromiss finden", erinnern sie sich heute. Inzwischen sprechen Selina und Jenni alle Verabredungen außerhalb der Beziehung miteinander ab.
Spontane Sex-Dates finden nicht statt. "Alles außerhalb der Absprache ist Betrug", sagt Jenni. Unsicherheiten habe sie nicht, dennoch verspüre sie manchmal Verlustangst oder Eifersucht, sagt sie. "Aber ein kleines bisschen Eifersucht ist auch gut." Beide glauben nicht an das Konzept der seriellen Monogamie. Serielle Monogamie bedeutet, dass man über einen bestimmten Zeitraum eine exklusive Partnerschaft eingeht, die irgendwann von einer anderen auch wieder exklusiven Partnerschaft abgelöst wird. "Da ist zu viel Betrug im Spiel", glauben beide. "Da sehen wir uns einfach nicht."
Sie beschreiben ihr Sexleben – außerhalb der Beziehung – dennoch nicht als überdurchschnittlich turbulent. "Wir haben ein intaktes Sexleben miteinander. Es gibt nichts, was uns innerhalb unserer Beziehung fehlt", sagt Selina. Es gehe viel mehr darum, dass sie als bisexuelle Frauen Bedürfnisse in beide Richtungen verspüren. "Und in dieser Beziehung geht halt nur das Ausleben in eine Richtung, das ist für mich nicht ausreichend", sagt sie.
In ihrer Vergangenheit hat sie diese Bedürfnisse unterdrückt. Das empfand sie als psychisch herausfordernd. "Ich wollte kein Doppelleben führen", sagt Selina. Wie gestaltet sich die offene Beziehung heute? Letztes Jahr entschieden sich die beiden Frauen, gemeinsam loszuziehen. Statt Verabredungen im Alleingang, trafen sie zusammen einen Mann, den Selina bereits kannte.
"Wir haben dann zusammen mit ihm was angefangen." Es sollte ein Versuch sein, stellte sich jedoch als passendes Konzept heraus. Seit letztem Sommer trifft sich das Paar regelmäßig mit dem Mann. "Das ist für uns aktuell die Variante, die uns am meisten Spaß macht." Gemeinsam können sie den Sex mehr genießen, Eifersucht verspüren sie dabei nicht. "Es ist einfacher, aktiv dabei zu sein als allein zu Hause zu sitzen und zu warten." Oft seien es nämlich die eigenen Gedanken, die einen aus der Ruhe bringen, sagt Jenni.
Ob es das Konzept ist, was sie für immer leben möchten, können sie nicht sagen. Vielleicht wollen sie sich irgendwann auch abseits dieser Dreierkonstellation, die nur auf Intimitäten beruht, wieder mit anderen Menschen treffen. Es bleibt eine Option, ist aber nichts, worauf sie sich fokussieren möchten: "Mir ist wichtig, dass die Beziehung dynamisch bleibt, das bedeutet immer auch die Regularien anzupassen", erklärt Selina.
Deswegen spricht das Paar ständig miteinander, macht alle paar Monate eine Art Check-up, behandelt Fragen wie: Wo stehen wir gerade? Was müssen wir verändern? Müssen wir Grenzen verschieben? Selina und Jenni mögen es nicht, wenn Menschen behaupten, irgendwo "angekommen" zu sein. "Dann geht es ja nicht weiter." Selina und Jenni wollen aber weiter. Und im nächsten Jahr wollen sie auch heiraten.