Düsseldorf, Sonntag, 11.51 Uhr. Im Foyer des Leonardo-Hotels unweit des Hauptbahnhofs treffen zwei Fangruppen aufeinander. Friedlich, um das klarzustellen. Vor der Bar des Hotels sitzen acht, neun junge Frauen und Männer in Deutschland-Trikots. Sie wirken angeschlagen, übernächtigt, vermutlich verkatert. Um 12 Uhr ist Treffpunkt, sie fahren gleich mit dem ICE zurück in ihre Heimat Stuttgart.
Fünf Meter weiter steht David. Er heißt wirklich so, behauptet er, auch wenn es nur ein Witz sein könnte, weil auf seinem England-Trikot der Name Beckham steht. Die Frau an der Rezeption entschuldigt sich: "Sorry, your room is not ready yet." Er nickt. "But we can prepare one. Give me 20 minutes." David ist überrascht, Check-in ist eigentlich erst um 15 Uhr. "Perfect", sagt er.
Es ist eine Szene, wie sie am Wochenende tausendfach passierte. Vor allem in Köln und Düsseldorf, zum Teil auch in Dortmund und Gelsenkirchen. Nordrhein-Westfalen ist das Herz der deutschen Fußball-EM, 39 Prozent aller Begegnungen finden in einem der vier Stadien statt.
Am deutlichsten spürbar war das am vergangenen Wochenende, zu den Achtelfinals. Die Frau an der Rezeption kann noch schmunzeln. "Gestern und heute hatten wir echt eine interessante Mischung", sagt sie. Plötzlich steht eine Teenagerin mit Elfenohren und blonder Perücke im Eingangsbereich. Am Wochenende fand auch noch die "DoKomi" in Düsseldorf statt, eine Anime-Expo mit weit mehr als 100.000 Besucher:innen. "Ganz egal, wo hier was passiert: Wir bekommen immer was ab."
Gut fürs Geschäft. Und manchmal schlecht für die Nerven.
Köln und Düsseldorf sind die stillen Dreh- und Angelpunkte der Europameisterschaft. Das Eröffnungsspiel stieg in München, das Endspiel wird in Berlin sein, Deutschland kickt in Frankfurt, Stuttgart oder Dortmund. Doch die Fäden laufen am Rhein zusammen. Was auch an der Infrastruktur im angesprochenen Dortmund und dem benachbarten Gelsenkirchen liegt: Die Städte sind groß, aber sie sind nicht ausgelegt auf zehntausende, hunderttausende Tourist:innen.
Vor allem die Hotelsituation ist angespannt, die Preise in Dortmund sind vor dem Deutschland-Spiel in Sphären gestiegen, bei denen man sich nur an den Kopf fassen kann. Wer kurzfristig ein Ticket für die Partie zwischen Deutschland und Dänemark ergattert hatte, musste bei spontaner Buchung zwischen 500 und 600 Euro für ein Einzelzimmer blechen. Und die Hotelbesitzer:innen lassen die Fußball-Fans bluten.
Watson hat, weil wir selbst in der Situation waren, den Check gemacht: Die Hotels verlangten vor der Partie das Drei- bis Fünffache der normalen Preise. Weil die komplette Stadt schlicht und einfach ausgebucht war und sie es sich erlauben konnten. Ob man das nun korrekt findet oder nicht.
In Düsseldorf war's deutlich einfacher, an ein Zimmer zu kommen. Für ein Drittel des Preises.
Viele Tourist:innen aus dem Ausland sind verwundert über die Situation. Das Argument ist oft: "Hier finden doch jede Woche Spiele in ausverkauften Stadien statt."
Das stimmt, ist aber nicht die ganze Wahrheit: Wenn in Gelsenkirchen oder Dortmund in der Liga gespielt wird, gibt's nur zehn Prozent Gästetickets. Der Rest sind Heimfans, die sehr oft in der eigenen Stadt oder zumindest in der Nähe wohnen. Und: Die Partien steigen in der Regel tagsüber und nicht um 21 Uhr. Was bedeutet: Kein Mensch braucht eine Übernachtung.
Die späten Anstoßzeiten können dabei zum Problem werden. Vor allem, wenn es in die Verlängerung geht oder, wie am Samstag, zu einer Verzögerung kommt, in diesem Fall durch ein Gewitter.
Tausende Menschen gingen nach dem Deutschland-Sieg die drei Kilometer zu Fuß zum Dortmunder Hauptbahnhof, der völlig überlastet war. Sicherheitskräfte mussten die Eingänge absperren, aus Angst vor einer Massenpanik. "Wer denkt sich so eine Scheiße denn aus?", fluchte ein Sicherheitsbeamter, während er versuchte, die Absperrung dichtzuhalten. Denn die Menge wurde ungeduldig. Viele befürchteten, den letzten Zug des Tages zu verpassen, vor allem die Fernreisenden.
Genau diese Stresssituationen hält Thomas, dessen Namen wir geändert haben, für hausgemacht. Er ist Polizist und stand am Nachmittag vor dem Düsseldorfer Hauptbahnhof, als er mit seinem Kollegen eine kurze Mittagspause machte: Brötchen, Kaffee, weiter geht's. Thomas erzählt watson, dass er "begeistert" sei von der EM, "ich bin großer Fußballfan und hier bei der Fortuna zehnmal im Jahr im Stadion".
Gleichzeitig könne er über Teile der Organisation nur den Kopf schütteln: "Am Samstag um 21 Uhr spielt Deutschland in Dortmund, am Sonntag um 18 Uhr England auf Schalke, am Sonntag um 21 Uhr Spanien in Köln, am Montag um 18 Uhr Frankreich in Düsseldorf. Die Achtelfinals zwei bis fünf sind alle hier. Sorry, wirklich: Wer plant das denn?"
Thomas klingt gar nicht wütend, wenn er das sagt. "Ich weiß halt nur, dass bisher echt alles recht friedlich war. Wenn's aber plötzlich irgendwo knallt, muss ich wieder lesen, dass die Polizei überfordert war."
Er beklagt sich nicht über die vielen Spiele in NRW, "hier ist halt Fußballhochburg". Jedoch: "Dass da die Deutsche Bahn kollabiert, dass Leute teilweise gar kein Hotel nehmen und versuchen, am Bahnhof zu pennen, dass es auch mal Stress gibt, wenn ein Engländer besoffen auf einen Franzosen trifft, das kann doch keinen überraschen." Er sei, sagt er, "überrascht", dass dennoch alles recht stressfrei verlaufe. "Aber ich hoffe auch, dass man mit Menschen wie mir spricht, bevor man das nächste Mal so ein Turnier organisiert. Das wäre ganz einfach anders gegangen."
Was er meint, ist: In Stuttgart und Hamburg finden keine Achtelfinals statt. Hierhin hätte man ausweichen können. Man hätte auch versuchen können, das Achtelfinale in Dortmund nicht um 21 Uhr, sondern um 18 Uhr spielen zu lassen – damit am Bahnhof spätnachts kein Chaos ausbricht. Oder man hätte wenigstens eines der Achtelfinals vom Sonntag mit einem der beiden von Dienstag tauschen können, wenn in München und Leipzig gespielt wird.
Was für die Polizei, die Sicherheitskräfte und auch die Deutsche Bahn zur Zerreißprobe wurde, ist für Fans hingegen ein Vorteil. Zum Beispiel für Maja und Felix. Das dänische Paar, das auch in diesem Text über seine Erlebnisse in Deutschland spricht, ist für drei Nächte nach Deutschland gekommen. Freitag hin, Montag zurück. Ein Spiel in Dortmund, ein Spiel in Köln, Übernachtung in Düsseldorf. "Ist doch mega", sagt Felix.
Thomas, der Polizist, kann sich für die Fußballfans freuen, weil er selbst einer ist. Und ihm ist am Ende auch egal, ob die Hotels teuer sind oder Menschen in Dortmund ihren Zug verpassen. "Mir geht's halt einfach um die Sicherheit. Und die Welt dreht sich ja auch während einer EM weiter. Wir haben ein paar Kilometer entfernt einen AfD-Parteitag mit tausenden Demonstrierenden, on top kam noch ein schweres Gewitter. Da möchte ich mir gar nicht ausmalen, was los wäre, wenn noch etwas richtig Dramatisches passiert."
Deshalb sei er froh, wenn der Spuk dann bald auch vorbei ist. Am Wochenende wird in Düsseldorf noch ein Viertelfinale stattfinden, am darauf folgenden Mittwoch ein Halbfinale in Dortmund. "Und dann", sagt er, "fahre ich erst mal ein paar Tage in den Urlaub." Es geht nach Paris, er hat Tickets für die Olympischen Spiele. "Da werde ich dann mit dem Bier durch die Bahnhöfe rennen. Und andere können sich Sorgen um die Sicherheit machen."