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Schock und Erschöpfung: Ukrainische Geflüchtete in Berlin erzählen

Die Menschen aus der Ukraine stehen mit ihrem wenigen Hab und Gut vor dem Aufnahmezentrum in Reinickendorf.
Die Menschen aus der Ukraine stehen mit ihrem wenigen Hab und Gut vor dem Aufnahmezentrum in Reinickendorf. watson
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Ukraine-Geflüchtete in Berlin erzählen: "Du hattest alle diese Pläne für dein Leben und auf einmal ist alles weg"

05.03.2022, 16:1908.03.2022, 19:32
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Die Sonne scheint in Berlin. Das Aufnahmezentrum in Reinickendorf liegt auf dem Gelände der ehemaligen Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik mit alten, ehrwürdigen Backsteinmauern und sogar einem Gehege mit Tieren. Pferde und Hasen stehen entspannt auf der matschigen Weide und beobachten die vorbeigehenden Menschengruppen. Nichts hier sieht nach Ausnahmezustand aus.

Viele Familien sind auf dem Gelände unterwegs.
Viele Familien sind auf dem Gelände unterwegs.watson

Doch alle diese Menschen hier sind aus der Ukraine geflohen, aus einem Kriegsgebiet, das von Russland mit menschenrechtswidrigen Vakuum-Bomben – laut Genfer Protokoll verboten – und Streumunition attackiert wird. Neben Ukrainerinnen und Ukrainern sind es auch einige Menschen aus anderen Ländern, die einst zum Studieren in die Ukraine kamen. Man sieht viele Familien mit Kindern, manche davon noch im Kinderwagen, kaum ein Jahr alt. Es ist sehr ruhig. Menschen sitzen auf Bänken oder stehen zusammen, kaum einer redet. Nur ab und an wird klar, in welcher Lage sie hier wirklich sind – wenn jemand mit einer Rescue-Decke vorbeiläuft oder Helfer Essenspakete ausgeben.

Sascha Langenbach, der Pressesprecher des Landesamtes, berichtet watson von seinen Eindrücken:

"Das sind europäische Nachbarinnen und Nachbarn, die vor einer Woche von dem Krieg vollkommen überrascht worden sind. Es ist jetzt nicht so, dass hier die Emotionalität unglaublich überwältigend wäre, sondern die Menschen befinden sich vielmehr im Schockzustand."

Wir sprechen mit den Menschen auf dem Gelände, die bereits fliehen konnten.

Yasin und Katerina

Das junge Ehepaar aus der Nähe von Kiew will nicht fotografiert werden. Sie sind noch zu geschockt, ihre Augen sind weit geöffnet. Gerade erst sind sie im Aufnahmezentrum angekommen, wissen noch nicht, wie es weitergeht. Yasin erzählt immer wieder: "Es ist hart, es ist so hart." Der 26-Jährige zeigt uns seine vor Kälte aufgeplatzten Hände. Während Yasin die Geschichte ihrer Flucht erzählt, steht Katerina nur stumm daneben, zieht an ihrer E-Zigarette und sieht sich immer wieder hastig um.

"Es ging los, als wir geschlafen haben. Meine Frau hat mich aufgeweckt und mir gesagt, sie bombardieren uns. Wir haben die Bomben gehört und gesagt: Wenn das noch einmal passiert, gehen wir. Und als es so war, haben wir die Stadt mit dem Bus verlassen. Wir hatten so viel Glück, denn nur 20 Minuten später haben die russischen Truppen genau den Bereich beschossen, in dem wir wohnen. Nur zwanzig Minuten später und wir wären vielleicht nicht mehr am Leben.

"Wir mussten zwischen die Bäume springen und uns verstecken, um nicht von den Kugeln getroffen zu werden."

Wir haben vor vier Tagen die Route über Polen genommen. Wir mussten lange an der Grenze zu Polen warten, es gab eine Schlange von vielleicht 20, 30 Kilometern. Während wir warteten, wurde auch einmal auf uns gefeuert. Wir mussten zwischen die Bäume springen und uns verstecken, um nicht von den Kugeln getroffen zu werden. In diesem Moment dachte ich wirklich: 'Okay, das war's. Das ist meine letzte Sekunde in diesem Leben.'

Später in Polen haben wir uns ein bisschen sicherer gefühlt, aber wir hatten trotzdem noch sehr viel Angst. Es ist – ich kann es immer noch nicht glauben. Es ist, als ob es gerade vor fünf Minuten passiert ist, ich weiß einfach nicht, wie das passiert ist. Ich kann mich nicht daran erinnern, welcher Tag heute ist und an welchem Tag der Krieg begonnen hat. Was mache ich plötzlich in Berlin? Ich bin geschockt. Ich hatte ein anderes Leben, Pläne, Arbeit und ein Studium. Du hattest alle diese Pläne für dein Leben und auf einmal ist alles weg.

"Aber ich kann einfach nicht schlafen vor Angst, immer wenn ich schlafen will, habe ich eine Art Panikattacke."
Die Geflüchteten warten hier auf ihre Aufnahme.
Die Geflüchteten warten hier auf ihre Aufnahme.watson

Ich stand total eingequetscht für zwölf Stunden im Bus auf dem Weg hierher. Ich bin erschöpft. Wir tragen seit vier Tagen die gleiche Kleidung, wir haben kaum getrunken oder gegessen und ich habe seit drei Tagen nicht geschlafen. Es ist alles ein bisschen zu viel. Immerhin haben wir jetzt geduscht. Aber ich kann einfach nicht schlafen vor Angst, immer wenn ich schlafen will, habe ich eine Art Panikattacke. Ich bin immer in Alarmbereitschaft. Gestern habe ich in Berlin ein Flugzeug gehört und ich hatte sofort eine Panikreaktion. Ich dachte, ich müsse mich jetzt verstecken oder so.

Der Krieg, das ist nicht so, wie wenn man es im Fernsehen sieht. Du kannst es fühlen: Wenn der Krieg bei dir ist, fühlst du dich nicht sicher, du fühlst, dass du dein Leben verlieren kannst. Du kannst dein Zuhause verlieren, deine Familie verlieren, deine Freunde, deine geliebten Menschen und einfach alles. Es hängt alles von ein, zwei Sekunden ab, die dein Leben beenden können. Du fühlst Angst und Stress.

"Wir sagen: 'Geht einfach an die Grenze. Rettet euch.' Aber sie wollen nicht gehen.'"

Unsere Familie ist immer noch dort in der Ukraine. Wir waren in der Stadt, aber sie haben sich auf dem Land versteckt und sie wollen ihr Zuhause nicht verlassen. Als der Moment da war, zu flüchten, sind wir Richtung Polen gegangen und sie in ein Haus aufs Land. Dort verstecken sie sich unter dem Fußboden im Keller.

Wir haben derzeit noch Kontakt zu meiner Familie. Sie sind außer sich vor Angst, sie weinen und das Essen und Wasser gehen zu Neige. Ich weiß nicht, wie sie an Wasser und Essen und diese Dinge kommen. Sie haben auch keine Medikamente und sie haben Kinder bei sich. Wir fragen sie immer noch, ob sie nicht flüchten wollen, sie sollen einfach da raus. Wir sagen: 'Geht einfach an die Grenze. Rettet euch.' Aber sie wollen nicht gehen."

Aarian mit seiner Frau Maria und Tochter Natalia

Diese ukrainische Familie will weiter in die Slowakei zu Verwandten.
Diese ukrainische Familie will weiter in die Slowakei zu Verwandten.watson

Die kleine Familie ist ebenfalls vor einigen Tagen aus der Ukraine geflohen, aus einem kleinen Ort in der Nähe von Charkiw. Aarian stammt aus Georgien, seine Frau Maria und seine siebenjährige Tochter Natalia sind gebürtige Ukrainerinnen. Er berichtet:

"Als unser Nachbarort bombardiert wurde, beschlossen wir, zu fliehen. Teilweise mit dem Bus, teilweise mit dem Zug. Es war ein langer, schwieriger Weg hierher. Es geht uns relativ okay, wir sind glücklich, das wir es nach Deutschland geschafft haben. Eigentlich wollen wir aber weiter in die Slowakei, weil dort meine Schwester lebt."

Mohammed, Many und seine Freunde

Diese fünf jungen Freunde haben in der Ukraine studiert, als der Krieg ausbrach.
Diese fünf jungen Freunde haben in der Ukraine studiert, als der Krieg ausbrach.watson

Die fünf Studierenden sind keine gebürtigen Ukrainer, sondern waren für ihr Studium im Land. Sie studierten Medizin, Wirtschaft oder Ingenieurwesen, als plötzlich der Krieg ausbrach und sie fliehen mussten:

"Es war verheerend. Wir waren in Charkiw. Charkiw ist in der Nähe der Grenze. Es war schlimm. Sie sagen in den Nachrichten, Zivilisten werden nicht angegriffen, aber das werden sie. Many hier zum Beispiel, sein Schlafsaal an der Universität wurde bombardiert, weil er in der Nähe einiger Regierungsgebäude liegt. Many wurde aber vorher evakuiert und ist seitdem bei uns. Er ist der jüngste von uns. Wir sind nach Polen geflohen und von Polen hierher nach Deutschland. Die Polen haben uns geholfen, einen Bus und Sim Cards zu bekommen. Sie waren sehr freundlich, es sind nette Menschen. An der Grenze zu Deutschland trafen wir Freiwillige, die uns die Route ins Aufnahmezentrum gezeigt haben.

"Manche Menschen werden auch etwas aggressiv wegen dem Hunger und dem Schlafmangel."

Aber an der Grenze zwischen Polen und der Ukraine ist es besonders schlimm. Es sind so viele Menschen, tausende. Manche Menschen werden auch etwas aggressiv wegen dem Hunger und dem Schlafmangel. Jemand erzählte uns, er sei 50 Kilometer zu Fuß gegangen, er konnte nicht mehr laufen und hatte Krücken. Bei uns waren es dann doch nur 20 Kilometer zu laufen.

Wir haben den Kontakt zu unseren Freunden vor ein, zwei Tagen verloren. Über unsere Facebook-Gruppen bekommen wir mit, wie sich Familienangehörige suchen, die nicht wissen, ob ihre Kinder oder Verwandten noch leben oder wo sie sind. Es ist verheerend. Wir wollen gerne unser Studium beenden, wissen aber nicht, ob das hier in Deutschland möglich sein wird. Wir sind keine Ukrainer, sondern kommen beispielsweise aus Tunesien und anderen Ländern."

Menschen sprechen lassen

Hinter jeder Katastrophe stecken eigene Geschichten. Wir lassen sie von denen erzählen, die sie erleben.

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