Im Mittelalter bildeten Marktplatz und Rathaus das soziale Zentrum einer Stadt: Hier fanden alle wichtigen Veranstaltungen der damaligen Gesellschaft statt – die Leute kamen zusammen, um zu schwatzen oder debattieren und zum Feilschen.
Doch seither hat sich viel verändert: Erst kamen große Kaufhäuser wie Galeria Kaufhof oder Karstadt (heute Galeria Karstadt Kaufhof) dazu. Inzwischen durchziehen ganze Shoppingmeilen die Innenstädte kleiner bis mittelgroßer Städte. Orte für Kultur und sozialen Austausch sind Zara- oder H&M-Filialen gewichen.
Doch spätestens in Folge der Energiekrise gerät der stationäre Einzel- und Fachhandel in finanzielle Not: Selbst der letzte große Warenhauskonzern Galeria Karstadt Kaufhof hat nun die Schließung von 52 seiner noch verbliebenen 129 Warenhäuser angekündigt.
Doch welche Folgen könnte das auf die Infrastruktur von kleinen und mittelgroßen Städten haben? Watson hat bei Expert:innen und Stadtplaner:innen nachgefragt: Verwahrlosen unsere Innenstädte jetzt? Oder ist das die Chance für eine grüne und soziale Zukunft, in der der Mensch wieder in den Mittelpunkt rückt?
"Die Mitte einer Stadt ist mehr als eine topografische Ortsangabe", hält Andrea Gebhard auf Anfrage von watson fest. Sie ist Präsidentin der Bundesarchitektenkammer und analysiert die aktuellen Veränderungen in deutschen Stadtbildern.
Sie sagt:
Auslöser Nummer eins sei dabei der Niedergang des stationären Einzel- und Fachhandels. Diese These stützt auch der Handelsverband Deutschland. Wie er in einer Pressemitteilung bekannt gab, befindet sich mehr als die Hälfte der Handelsunternehmen aufgrund der gestiegenen Energiekosten im Jahr 2022 in Existenzgefahr.
Dazu kommen bauliche Vernachlässigung und rückläufige Besucherfrequenzen, wie Gebhard aufzählt. Diese Faktoren führten bereits jetzt vielerorts zu Verödung. Mit Folgen für das Innenleben von deutschen Städten, wie sie ergänzt:
Dieser Wandel, der den Menschen und das Soziale wieder in den Mittelpunkt rückt, solle auch durch konkrete Maßnahmen des europäischen Green New Deals vorangetrieben werden. Das erklärte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Der Green New Deal hat zum Ziel, dass europäische Städte bis 2050 klimaneutral sind. Und generell besser auf die Gesundheit und das soziale Wohlergehen von Menschen ausgerichtet werden. Gebhard befürwortet diese Idee.
"Dass die Kaufhäuser in der nahen Vergangenheit noch ein Hebel waren, um mehr Menschen in die Innenstadt zu bringen, glaube ich nicht. Sonst würden sie jetzt nicht insolvent gehen", erläutert Boris Hedde vom Kölner Institut für Handelsforschung (IFH Köln) gegenüber watson. In den 60er-Jahren hatten Warenhäuser einen Marktanteil von 15 Prozent, heute seien es noch 1,4 Prozent. "Das ist also sehr überschaubar, hier geht kaum jemand mehr einkaufen. Das kann dann auch kein Verlust für die Innenstadt sein."
Wichtiger wäre es Hedde zufolge jetzt zu planen, wie die Immobilien der alten Kaufhäuser genutzt werden könnten, um durch ein attraktives Angebot tatsächlich wieder Menschen in die Städte zu locken. Er sagt:
Eine Kombination daraus wäre der Schlüssel zur Wiederbelebung der Stadtzentren, meint Hedde.
Statt "monofunktionaler Standorte" wie Shoppingstraßen, müssten nun Mehrnutzungs-Standorte her, wo Menschen auch andere Aktivitäten finden.
Doch wie könnte eine solche Neuerfindung konkret aussehen?
Als Beispiel führt der Experte dafür die Stadt Lübeck an. Die Stadtverwaltung versuche hier, mit Bildungsangeboten anstelle von Handel die Innenstadt wieder zu beleben:
Ähnliches geschehe auch in einem alten Warenhaus in Trosdorf bei Bamberg. Dort werde versucht, das Thema Entertainment zu bespielen. Hedde führt aus:
Ist die Konsequenz also, die Innenstädte neu zu bebauen? Nein, meinen sowohl Gebhard als auch Hedde. "In den bestehenden Zentren liegt bereits viel Potenzial, auch für mehr Klimaschutz. Wenn wir das Vorhandene nutzen und stärken, ist das nachhaltig", erläutert Gebhard. "Wohnen muss zurück in die Innenstädte, das ist das Allerwichtigste. Denn wo gewohnt wird, entsteht Alltag, Mischung und wirtschaftliches Potenzial."
Außerdem brauche es mehr "Grün und Blau in der Stadt", also mehr Bäume, Gärten und Wasserflächen – im Gegenzug dafür weniger Verkehr und versiegelte Flächen. Das könnte auch durch extensive Begrünung auf allen geeigneten Dach- und Wandflächen vorangetrieben werden, wie Gebhard erläutert.
Denn zum Flair vitaler Städte gehörten immer mehr Grünflächen. Das bestätigt auch eine Studie des IFH Köln zur Bewertung deutscher Innenstädte. "An der Spitze der Umfrageergebnisse war der Wunsch nach nicht-kommerziellen Orten in der Innenstadt, an denen sich Menschen treffen und einfach verweilen können", sagt Hedde. "Das wären neben viel mehr Grünflächen schon einfache Sitzmöglichkeiten."
Freiplätze für mehr Miteinander würden auch sozial nachhaltig wirken, wie Hedde betont:
Auch Gebhard drängt auf Veränderung der alt-eingefahrenen Stadt-Strukturen. Wenn wir in den kommenden Jahren nicht mutig sind und Anpassungen verschlafen, meint er, werden sehr viele Menschen unter dem Temperaturanstieg leiden. Er sei zwar optimistisch, aber auch ungeduldig. "Es gibt schon so viele gute Ideen – wir müssen jetzt ins Handeln kommen!"