Nachhaltigkeit
Gastbeitrag

Fridays for Future: Herr Scholz und dunkle Zeiten der deutschen Geschichte

Bundeskanzler Olaf Scholz besucht Katholikentag in Stuttgart. Ein Aktivist versucht, den Auftritt in der Liederhalle zu st
Bundeskanzler Olaf Scholz besucht Katholikentag in Stuttgart. Ein Aktivist versuchte, den Auftritt in der Liederhalle zu stören.Bild: www.imago-images.de / imago images
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Fridays for Future fordern Stopp von Energie-Projekten im Senegal: "Klimakanzler geht anders, Herr Scholz!"

03.06.2022, 12:4803.06.2022, 14:25
cosima rade & Marius Schweizer, gastautoren
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Am vergangenen Freitag, den 27. Mai 2022, hatte Bundeskanzler Scholz auf dem Katholikentag in Stuttgart die Gelegenheit, seine Klimapolitik zu erklären. Doch nach Zwischenrufen von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten entschied er sich auf offener Bühne, diese verbal anzugreifen und mutmaßlich Parallelen zwischen Nationalsozialisten und der Klimagerechtigkeitsbewegung zu ziehen. Kann er so sagen, aber uns fällt ein Unterschied auf: Die einen vertreten eine totalitäre, menschenverachtende Ideologie, die anderen kämpfen für Menschenrechte und die Einhaltung der Pariser Klimaziele. Dazu verpflichte sich übrigens auch Herr Scholz im Koalitionsvertrag.

Aber was jetzt? Wir fordern keine Entschuldigung. In einer Zeit, geprägt von erstarkendem Rechtsextremismus, gibt es für eine solche, den Nationalsozialismus verharmlosende Aussage, keine Rechtfertigung.

Alle zwei Wochen melden sich Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future in einem Gastbeitrag bei watson zu Wort.
Alle zwei Wochen melden sich Aktivistinnen und Aktivisten von Fridays for Future in einem Gastbeitrag bei watson zu Wort.

Am Freitag fühlte sich Herr Scholz an eine "Zeit, die ["Gott sei Dank"] lange zurückliegt" erinnert. Wenn wir uns die konkrete Klimapolitik der Bundesregierung in den letzten Wochen anschauen, zeigen sich jedoch ganz andere katastrophale Vorgänge, denn im Senegal werden gerade neokoloniale Projekte vorangetrieben.

Worum geht es? Die Bundesregierung möchte dort in weitere Gasförderung investieren, obwohl sie genau weiß, dass es nach dem Pariser Klimaabkommen keine neuen Öl-, Kohle- oder Gasprojekte geben darf. Die derzeitige fossile Industrie muss so schnell wie möglich heruntergefahren und nachhaltig neu aufgebaut werden, wenn wir die 1,5-Grad-Grenze nicht sprengen und unsere Lebensgrundlage auf diesem Planeten erhalten wollen.

Darüber hinaus war das Auftreten des Bundeskanzlers bei seinem Besuch im Senegal besonders zynisch, da eine historische Ungerechtigkeit vorliegt. Der gesamte afrikanische Kontinent ist für lediglich vier Prozent der kumulierten CO₂-Emissionen verantwortlich. Dagegen verursachte Deutschland seit der Industrialisierung ganze 5,7 Prozent. Somit tragen Länder, die ohnehin schon am heftigsten unter der Klimakrise leiden, nur eine unwesentliche Schuld an dieser.

Eine Politik, die sich ihrer globalen Verantwortung bewusst ist und im Sinne der Menschenrechte agiert, würde also schnellstmöglich die fossile Industrie im Globalen Norden herunterfahren und im Globalen Süden alles dafür geben, dass die Länder dort einen Zugang zu nachhaltigen und gerechten Energien erhalten und die katastrophalen Auswirkungen der Klimakrise eindämmen können. Oder wie es Yero Sarr, Mitgründer von FFF Sénégal, formuliert: "Wir fordern Deutschland auf: Wenn ihr uns wirklich helfen wollt, dann finanziert und unterstützt unsere Energiewende!"

Cosima Rade, 19, studiert Politikwissenschaft in Tübingen und ist seit 2020 bei FFF Stuttgart aktiv, wo sie Bildungsangebote organisiert und Aktivismus mit Kunst verbindet.
Cosima Rade, 19, studiert Politikwissenschaft in Tübingen und ist seit 2020 bei FFF Stuttgart aktiv, wo sie Bildungsangebote organisiert und Aktivismus mit Kunst verbindet.bild: Fridays for future

Das wäre ein gerechtes Vorgehen. Doch was passiert stattdessen? Der Bundeskanzler möchte zusammen mit fossilen Konzernen die Gasförderung in einem Land ausbauen, das enorm wenig Emissionen verursacht hat und dennoch unter verheerenden Hitzewellen, Dürren und Ernteausfällen leidet. Doch dabei bleibt es nicht, denn die Lebensgrundlage im Senegal wird bereits durch die Gasbohrungen selbst zerstört. Marode Pipelines vergiften Wasserquellen und zerstören die Infrastruktur. Unter desaströsen Arbeitsbedingungen werden die Einwohnenden ausgebeutet.

"Klimakanzler geht anders, Herr Scholz!"

Die geplante Gasförderung im Senegal ist damit der Inbegriff eines neokolonialen Projektes. Als Partei, die sich so gern Gerechtigkeit auf die Fahnen schreibt, zeigt die SPD hier einmal mehr, wie sehr sie ihre eigenen Werte über Bord zu werfen bereit ist. Klimakanzler geht anders, Herr Scholz!

Doch der Senegal ist leider kein Einzelfall. Die fossile Ausbeutung eines gesamten Landes und seiner Bevölkerung hat System. Koloniale Strukturen werden so bis heute reproduziert.

Welchen Hintergrund hat das? Der Kolonialismus ist kein abgeschlossenes Phänomen der Vergangenheit, im Gegenteil: Noch heute bestehen die künstlichen Grenzen, kulturelle und wirtschaftliche Abhängigkeitsstrukturen und vieles mehr. Dies führte und führt zu Konflikten, Krieg und Ausbeutung von Natur und Menschen in den ehemals kolonialisierten Gebieten.

Marius Schweizer, 22, studiert Physik in Tübingen und ist seit 2019 bei FFF aktiv. Er setzt sich vor allem für eine systemkritische und basisorientierte Klimagerechtigkeitsbewegung ein.
Marius Schweizer, 22, studiert Physik in Tübingen und ist seit 2019 bei FFF aktiv. Er setzt sich vor allem für eine systemkritische und basisorientierte Klimagerechtigkeitsbewegung ein.

Auch Deutschland hat auf ein dunkles Kapitel seiner Geschichte, eine grausame, oftmals unterschätzte Kolonialgeschichte, zurückzublicken. Das Deutsche Kaiserreich hat zum Beispiel den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts, an den Herero und Nama im heutigen Namibia, zu verantworten.

"Ohne gerechte Klimapolitik können die kolonialen Strukturen nicht aufgelöst werden."

Ungerechte Strukturen und Verhaltensweisen werden fortgeführt, auch im Hinblick auf die internationale Klimapolitik. Viele derjenigen Menschen und Regionen, die am meisten unter der Klimakrise leiden, obwohl sie am wenigsten dazu beigetragen haben, wurden seit Jahrhunderten von Kolonialmächten unterdrückt und ausgebeutet. Kolonialismus und Klimakrise sind daher untrennbar voneinander zu betrachten. Ohne gerechte Klimapolitik können die kolonialen Strukturen nicht aufgelöst werden.

Während Scholz also Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten mit Gruppen aus einer Zeit vergleicht, die "Gott sei Dank" vorbei ist, stehen seine Investitionen in fossile Gasbohrungen im Globalen Süden tatsächlich in einer Tradition aus einem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte.

Was es jetzt vom Bundeskanzler braucht, sind keine Entschuldigungen, sondern der sofortige Stopp fossiler Investitionen und neokolonialer Ausbeutung. Wir fordern einen detaillierten Plan, wie Deutschland das Pariser Klimaabkommen einhalten kann und, wie bereits 2009 auf der Klimakonferenz in Kopenhagen beschlossen, gerechte Klimafinanzierung bereitstellt.

Die großen Transformationen unserer Gesellschaftsstruktur, wie die Energie-, Agrar- oder Mobilitätswende, werden jedoch nicht gelingen, wenn die Zivilgesellschaft sie nicht selbst gestaltet.

Benötigt werden Menschen, die sich zusammenschließen, organisieren und sich so für eine nachhaltige Gesellschaft einsetzten. All das wird gebraucht und ist eine notwendige Bedingung für eine soziale und ökologische Wende. Doch das allein reicht nicht. 70 Prozent der historischen CO₂-Emissionen lassen sich auf etwa hundert fossile Konzerne zurückführen. Ob Shell, Total oder RWE. Sie alle, finanziert von zum Beispiel der Deutschen Bank, werden an der Ausbeutung von Menschen festhalten. In der Logik unseres fossilen Wirtschaftssystems ist es nicht vorgesehen, dass Profite zugunsten von Menschenrechten zurückgestellt werden.

Während die Weltwetterorganisation die Klimakrise erneut als "[g]rößte Gefahr in diesem Jahrhundert" erklärte, plant die Bundesregierung schon die nächsten Investitionen in fossile Projekte. Die Profitgier von Politik und Wirtschaft verfeuert damit jede Chance auf ein stabiles Klima.

Die Klimagerechtigkeitsbewegung muss zeigen, dass es auch anders geht. Wir gehen auf die Straße, protestieren gegen Investitionen in Erdgas, zeigen, dass wir fossiler Ausbeutung und brutaler Zerstörung von Menschenleben und Ökosystemen nicht tatenlos zusehen werden. Wir als Zivilgesellschaft müssen für Klimagerechtigkeit einstehen und kämpfen, denn echte Veränderung kommt von uns allen.

Wir werden gebraucht.

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