Wenn der Joghurtbecher sich tief im Kühlschrank hinter einem großen Kopf Salat versteckt und wir ihn Wochen, nachdem wir ihn gekauft haben, wiederfinden, fällt unser Blick meist zuerst auf das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD). Liegt das aufgedruckte Datum in der Vergangenheit, dann bekommt dieser Joghurt meistens keine Chance mehr, noch zusammen mit Müsli und Obst als leckeres Frühstück in unserem Magen zu landen. Schade eigentlich – denn die meisten Lebensmittel halten sich viel länger, als wir annehmen. Und wir werfen sie trotzdem weg.
Im vergangenen Jahr sind einem UN-Bericht zufolge etwa 17 Prozent der weltweit verkauften Lebensmittel im Müll gelandet – insgesamt über 930 Millionen Tonnen. Erschreckende Zahlen, die noch mehr Gewicht bekommen, wenn wir uns bewusst machen, dass – während wir viele noch genießbare Lebensmittel wegwerfen – fast 700 Millionen Menschen an Hunger leiden.
In den letzten Jahren haben sich viele Unternehmen gegründet, die der Lebensmittelverschwendung ein Ende bereiten wollen – Sirplus, Too Good To Go, Foodsharing und Motatos sind nur einige der Organisationen. Die Corona-Pandemie hat allerdings auch ihre Arbeit verändert. Wie halten sich die Unternehmen über Wasser? Wie sehr achten die Menschen in einer Krise auf das, was sie verbrauchen? Und hat sich vielleicht sogar ein Trend zu mehr Achtsamkeit gegenüber Lebensmittel herauskristallisiert?
Watson hat mit Raphael Fellmer gesprochen, er ist Klimaaktivist, Autor und Mitbegründer von Foodsharing und Sirplus. Mit seinem Social-Impact-Startup Sirplus hat er neben einem Online-Shop bereits sechs sogenannte Rettermärkte in Berlin eröffnet. In den Geschäften werden Lebensmittel verkauft, die aus verschiedenen Gründen – zum Beispiel wegen Ablauf des MHD oder Produktionsfehlern – entweder gar nicht erst in regulären Supermärkten landen oder dort nach einer Weile ausrangiert werden. Die Lebensmittel werden in den Kreislauf zurückgeführt und bekommen so noch eine zweite Chance, von Kunden "gerettet" zu werden.
Funktioniert das auch jetzt, während Corona? "Der Fokus hat sich massiv in Richtung Online verändert. Früher haben die Rettermärkte mehr eingenommen, mittlerweile wird mehr als die Hälfte im Online-Shop gerettet und es geht immer weiter in diese Richtung", sagt Fellmer. "Außerdem haben wir während der Pandemie Produkte bekommen, die wir vorher nie hatten. Beispielsweise aus Duty Free Shops, oder von Firmen, die aufgrund der Pandemie pleite gegangen sind."
Der Trend zum Online-Kauf ist nicht verwunderlich, viele Menschen haben Angst vor einer Ansteckung in den Märkten. Fellmer sagt, dass die meisten Menschen während der Corona-Zeit lieber zu einem Laden fahren, wo sie sofort alles bekommen, anstatt zu Sirplus oder anderen spezialisierten Geschäften. Deshalb hat das Unternehmen mit Umsatzeinbußen zu kämpfen. Die Personenbeschränkung im Geschäft hätte das noch verstärkt, meint Fellmer.
Das schwedische Unternehmen Motatos könnte von diesem Trend profitieren: Der Online-Shop wurde im April 2020 in Deutschland gelauncht. Das Konzept ist dem von Sirplus ähnlich: Produkte, die aus diversen Gründen nicht mehr in regulären Märkten verkauft werden, bekommen hier eine zweite Chance – und sind dabei deutlich günstiger.
Was bei Sirplus nicht mehr verkauft werden kann, wird an Foodsharing weitergegeben. Die Organisation vernetzt Menschen miteinander, die Lebensmittel dort abholen, wo sie übrig geblieben sind – zum Beispiel in Supermärkten, Restaurants oder Bäckereien. Raphael Fellmer sagt, dass das auch während der Pandemie problemlos weiterlief: "Sowohl in den Märkten als auch im Lager wird das sehr gut angenommen. Wir spenden außerdem an verschiedene Tafeln, die immer Vorrang haben und wir sind sehr dankbar für Ihren Einsatz."
Um weiterhin Menschen zu ermöglichen, Lebensmittel zu retten, hat das Team von Foodsharing ein ausführliches FAQ zu dem Thema "Corona und Foodsharing" veröffentlicht. Darin werden alle Interessenten dazu angehalten, die Hygienestandards und Abstandsregeln einzuhalten und es werden Hinweise dafür gegeben, wie das Lebensmittelretten auch während der Pandemie sicher ablaufen kann.
Trotz der großen Bemühungen müssen manche Kooperationen gerade pausieren, denn die Restaurants und Cafés, von denen Foodsharing oft ihre Ware erhält, sind weiterhin fast überall geschlossen. Das beeinflusst auch die Arbeit des Unternehmens Too Good To Go. Das Konzept: Mithilfe einer App sehen, in welchen Restaurants oder Geschäften gerade Lebensmittel oder zubereitete Mahlzeiten übrig bleiben und diese für wenig Geld vor Ort abholen – und so vor der Tonne retten.
Da die Gastronomie stark von der Pandemie betroffen ist, ist das Team von Too Good To Go kreativ geworden. In einem Statement auf Instagram heißt es über ihre Initiative aus dem Frühjahr: "Wir unterstützen unsere Partnerläden, wo immer es uns möglich ist. Beispielsweise stellen wir vorübergehend die Too Good To Go-App als Non-profit-Maßnahme allen gastronomischen Betrieben zur Verfügung, um schnell und einfach eine Take-away-Option anbieten zu können. Unter dem Motto 'We Care' können Restaurants reguläre Gerichte zu regulären Preisen über die App anbieten."
Johanna Paschek von Too Good To Go sagte gegenüber watson über die Herausforderungen der aktuellen Situation:
Berührungsängste, Speisen oder Lebensmittel während der Pandemie abzuholen, haben die App-User keine, sagt Paschek. Im Gegenteil: Die Community sei noch gewachsen und umfasse mittlerweile 5 Millionen Menschen, die in den letzten Jahren gemeinsam 7 Millionen Mahlzeiten vor der Tonne gerettet haben.
Die zahlreichen Umgangsformen mit der Corona-Krise zeigen deutlich: Der Wille zum Lebensmittelretten ist nach wie vor da. Auch Raphael Fellmer glaubt daran, dass die Menschen immer mehr auf ihren Konsum achten und weniger verschwenden wollen. "Die Restaurants sind geschlossen und es wird mehr gekocht. Dadurch etabliert sich auch eine größere Wertschätzung für die Lebensmittel. Die Pandemie ist zwar schrecklich, aber es sind auch positive Dinge dadurch entstanden, die die Gesellschaft nachhaltig verändert haben."
Im letzten Jahr habe er gemeinsam mit seinem Team von Sirplus mehr Lebensmittel gerettet als jemals zuvor – das zeige deutlich, dass bei vielen Menschen ein Umdenken hin zu mehr Nachhaltigkeit stattgefunden hat. Er glaubt: Corona hat das zusätzlich beschleunigt.
Am Ziel angelangt sind wir Fellmers Meinung nach aber längst noch nicht:
Konkrete Vorschläge hat der Sirplus-Chef auch schon: "Es sollte nicht nur eine Ökosteuer auf Benzin geben, weil es klimaschädlich ist, sondern auch eine Lebensmittelverschwendungssteuer. Dadurch würde man auch für Restaurants, Supermärkte oder Hersteller Anreize schaffen, übrig gebliebenes zu rabattieren oder weiterzugeben, anstatt wegzuwerfen."
Zu diesem Thema laufen derzeit übrigens zahlreiche Petitionen. Viele Menschen fordern beispielsweise, dass die EU Supermärkte dazu verpflichtet, unverkauftes Essen zu spenden, oder dass Containern – die Mitnahme weggeworfener Waren aus Abfallcontainern – legalisiert wird. Der Wunsch danach, Lebensmittelverschwendung mithilfe der Politik zu reduzieren, lässt sich an den zahlreichen Aufrufen und Initiativen erkennen.
Auch Fellmer hofft auf mehr Unterstützung seitens der Politik. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft sieht beispielsweise vor, die Lebensmittelverschwendung in Deutschland bis 2030 zu halbieren. "Das einfach nur zu sagen wird die Lebensmittelverschwendung aber nicht reduzieren. Es müssten Millionen Euro pro Bundesland locker gemacht werden für Aufklärungsarbeit und Anreize jedes Jahr, damit wir dieses Ziel auch erreichen. Und die Uhr tickt."