Wir schreiben das Jahr 2020. In ganz Deutschland hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass das Erreichen der Klimaziele nur mit einem Umstieg auf erneuerbare Energien möglich ist. In ganz Deutschland? Nein. Nahe der 35.000-Einwohner-Gemeinde Datteln im Ruhrgebiet geht am heutigen Samstag ein neues Kraftwerk ans Netz – ein Steinkohlekraftwerk. 1100 Megawatt Strom will der Energiekonzern Uniper damit ins Netz speisen. Und das, obwohl der Kohleausstieg eigentlich beschlossene Sache ist und spätestens im Jahr 2038 das allerletzte Kohlekraftwerk vom Netz gehen soll. Wie kann das sein?
Das fragen sich auch Fridays for Future, Greenpeace, die Organisation Ende Gelände, der BUND und sechs weitere Gruppen. Sie protestieren an Tag X, wie sie den Tag der Inbetriebnahme nennen, vor der Kulisse des Kraftwerks – und haben deutliche Worte im Gepäck. "Die Regierung nimmt es sich heraus, dieses Kraftwerk anzuschalten, obwohl es nicht gewollt ist und nicht gebraucht wird", sagt Luisa Neubauer von Fridays for Future bei einer Pressekonferenz und grüßt die "offensichtlich inkompetente Regierung".
Während die Umweltschützer schwimmend den Kanal vor dem Kraftwerk blockieren, eine Menschenkette bilden und "Power to the People" singen, hat sich ein paar Meter weiter eine andere Demonstration zusammengefunden. Hier demonstrieren IG Metall und Bergbauarbeiter mit Warnwesten und farbigen Helmen, von den Umweltschützern werden sie durch eine Vielzahl schwarz gekleideter Polizisten getrennt. Doch im Prinzip stehen sie auf der gleichen Seite. Sie kritisieren, dass im deutschen Bergbau Arbeitsplätze abgebaut werden, für Datteln IV aber Kohle aus dem Ausland exportiert wird.
"Die Rettung der Umwelt und die Rettung der Arbeitsplätze gehören zusammen", sagt Claudia Schewior von der IG Metall gegenüber watson. "Wir Arbeiter im Bergbau werden entlassen, aber nicht wegen des Umweltschutzes. Dabei haben wir so viel Know-How, das könnten wir doch auch für erneuerbare Energien nutzen."
Nicht nur für die Demonstranten ist die Inbetriebnahme von Datteln IV ein schwarzer Tag. Auch 63 Prozent der Deutschen sind einer repräsentativen Umfrage des BUND zufolge gegen diesen Schritt. Kraftwerk-Betreiber Uniper dagegen weist darauf hin, dass Datteln 4 "eines der modernsten Kohlekraftwerke" sei. Und die Bundesregierung und die NRW-Landesregierung verteidigen die Inbetriebnahme damit, dass im Gegenzug ältere Steinkohlekraftwerke mit noch schlechterer Klimabilanz abgeschaltet würden – es gebe also keine zusätzlichen Emissionen.
Tatsächlich rechnen Umweltministerium und Uniper bei Datteln IV mit "nur" etwa 780 Gramm Co2 pro Kilowattstunde Strom, während ältere Kraftwerke mehr als 900 Gramm erzeugen. Im Vergleich zu erneuerbaren Energien ist das aber immer noch viel, und es gibt noch einen Haken: Die älteren Kraftwerke hatten in den vergangenen Jahren eine Auslastung von unter 35 Prozent, beim effizienteren und dadurch wettbewerbsfähigeren Datteln IV wird die Auslastung aber wohl deutlich höher liegen.
Das alles gewinnt noch einmal an Brisanz, wenn man bedenkt, dass sich die eigens von der Bundesregierung eingesetzt Kohlekommission dafür ausgesprochen hatte, das bereits gebaute Kraftwerk in Datteln nicht in Betrieb zu nehmen – und Uniper stattdessen eine Entschädigung zu zahlen. Einen Mangel an Strom gäbe es dadurch nicht: Deutschland verzeichnete in den vergangenen Jahren ohnehin einen Stromüberschuss und exportierte Energie ins Ausland.
Dass die Bundesregierung diesen Vorschlag ablehnte und das Kraftwerk dennoch ans Netz geht, halten Umweltverbände für einen Verstoß gegen die Beschlüsse der Kommission. Dabei ist die jetzt erfolgte Inbetriebnahme eigentlich nur ein formaler Schritt. Im Probebetrieb speiste das Kraftwerk schon in den vergangenen Monaten eine Menge Strom ins Netz.
Den Großteil dieses Stroms nehmen der Energiekonzern RWE und die Deutsche Bahn ab, dazu hatten sie sich 2007 vertraglich verpflichtet. Die Gemeinsamkeit: Beide Konzerne wollen den Strom inzwischen gar nicht mehr. Die Bahn versuchte vergeblich, aus den Verträgen herauszukommen, RWE zog dafür sogar vor Gericht.
Besonders absurd: Mit der Bahn verpflichtete sich ausgerechnet der Staatskonzern für die Abnahme von mehr als 400 Megawatt Kohlestrom aus Datteln IV, der sich gerne als Vorreiter der Verkehrswende präsentiert. Nach eigenen Angaben kommt bereits 60 Prozent des Bahnstroms aus erneuerbaren Energien, bis 2038 sollen elektrisch betriebene Züge vollkommen klimaneutral fahren.
Dass die Bahn dennoch auf Kohlestrom setzte, mag auch daran liegen, dass die Verträge bereits im Jahr 2007 geschlossen wurden. Denn hinter Datteln IV liegt eine Pannenserie, die es beinahe mit dem BER aufnehmen kann: Eigentlich sollte das Kraftwerk schon Ende 2010 ans Netz gehen. Doch dann folgten Pannen in der Planungs- und Bauphase. Erst legte das Oberverwaltungsgericht NRW die Baustelle wegen Fehler im Genehmigungsverfahren still, dann gab es schwere Baumängel.
Letztendlich hat es das Kohlekraftwerk doch noch ans Netz geschafft. "Heute ist ein beschämender Tag für Europa, da wir ein brandneues Kohlekraftwerk eröffnen", twitterte die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg dazu. "Wir haben uns verpflichtet, den Weg zu ebnen, um eine Klimakatastrophe zu vermeiden - und doch ist dies das Signal, das wir an den Rest der Welt senden?"
Für die Demonstranten vor Ort in Datteln ist trotzdem klar: Der Kampf ist noch nicht verloren – er hat gerade erst angefangen. "Das lassen wir der Landesregierung nicht durchgehen", sagt Klimaaktivistin Kathrin Henneberger zu watson. "Wir müssen als Menschen des globalen Nordens unsere Verantwortung wahrnehmen, unsere CO2-Emissionen zu reduzieren. Ich bin mir sicher, wir werden es schaffen, das Kraftwerk vom Netz zu bekommen."