Essen in Nordrhein-Westfalen ist nicht nur eine der zehn größten Städte Deutschlands. Wie eine BBC-Reportage nun enthüllt, ist der Ort im Ruhrgebiet auch Dreh- und Angelpunkt für den Schmuggel von Schlauchbooten, mit denen Migrant:innen den Ärmelkanal in Richtung Großbritannien überqueren wollen.
Dass die Recherche des Undercover-Reporters ihn nach Essen führt, ist kein Zufall. Denn die im Westen gelegene Stadt ist einerseits nicht zu weit entfernt von Calais, einem französischen Ort, der direkt am Ärmelkanal liegt. Andererseits gebe es hier gute Lagermöglichkeiten für die Boote und andere Geräte, die für die Überquerung benötigt werden.
Der Reporter trifft sich in Essen mit den Schmugglern unter dem Vorwand, selbst mit Familie und Freund:innen die Reise nach England per Schlauchboot antreten zu wollen. Diese machen ihm ein "Pauschalangebot": 15.000 Euro für den Transport eines Motor-Bootes in der Nähe von Calais, dazu Treibstoff, einer Pumpe und 60 Schwimmwesten – mehr als eigentlich benötigt wird.
Der Reporter könne das Boot für 8000 Euro auch selbst abholen, dann würden die Schmuggler jedoch nicht dafür verantwortlich sein, sollte er erwischt werden.
Während die neue britische Regierung verspricht, "die Banden zu zerschlagen", ist Deutschland zu einem zentralen Ort für die Lagerung von Booten und Motoren geworden, die bei der Überquerung des Ärmelkanals zum Einsatz kommen – dies wurde der BBC von der britischen National Crime Agency bestätigt. Während der verdeckten Recherchen verrieten die Schmuggler, dass sie die Boote in mehreren geheimen Lagern aufbewahren – während sie mit der deutschen Polizei Katz und Maus spielen.
Dieses Jahr ist bereits das tödlichste für Migranten bei der Überquerung des Ärmelkanals, zeigen UN-Zahlen, während mehr als 28.000 Menschen bisher die Reise in kleinen, gefährlich gepackten Booten gemacht haben.
Essen ist nur vier bis fünf Autostunden von Calais entfernt – nah genug, um die Boote schnell dorthin zu bringen, aber nicht zu nah an den stärker überwachten Stränden in Nordfrankreich. Zwar kommt es zu Polizeirazzien, doch ist die Hilfe beim Menschenschmuggel in Deutschland technisch gesehen nicht illegal, wenn er in ein Drittland außerhalb der EU erfolgt, was das Vereinigte Königreich nach dem Brexit ist.
Das Innenministerium in Berlin argumentiert, dass "kein direkter Schmuggel" stattfindet, da Deutschland und das Vereinigte Königreich keine geografischen Nachbarn sind. Eine Quelle des britischen Innenministeriums sagte der BBC, dass es deswegen "Frustration" über den deutschen Rechtsrahmen gibt.
Die meisten Boote wurden in China hergestellt, bevor sie in Containern in die Türkei und dann nach Europa transportiert wurden. Eine der Autorinnen des Berichts, Tuesday Reitano, erklärt, dass die Rolle Deutschlands als Drehscheibe aus verschiedenen Gründen gewachsen ist, unter anderem wegen der strengen "Anti-Schmuggel-Kontrollen" in Frankreich, die zunehmend organisierte Banden dazu veranlasst haben, über größere Entfernungen zu operieren.
Sie glaubt auch, dass sich die deutschen Behörden weniger mit dem Problem der Überquerung des Ärmelkanals befassen, weil "es kein Problem ist, das an ihrer Grenze liegt".
BBC hat dem Vorsitzenden der National Independent Lifeboat Association, Neil Dalton, Filmmaterial von den Booten gezeigt. Daraufhin erklärte er, er würde mit solchen Booten nicht in einmal über einen "Ententeich" fahren. Er vergleicht ein solches Boot mit einer "Todesfalle" und sagt, dass es "entsetzlich gefährlich" wäre, Dutzende von Menschen für eine Kanalüberquerung auf diese Boote zu packen, da die Konstruktion "ungeheuer schwach" zu sein scheint.
Unterdessen betonen Diplomaten, dass sich die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich im Kampf gegen diese Banden verbessert habe.