Rekord-Europameister Deutschland, der amtierende Weltmeister Frankreich, Vize-Weltmeister Kroatien, Europameister Portugal und auch die Niederlande – für gleich fünf Top-Favoriten auf den EM-Titel ist das Turnier nach dem Achtelfinale bereits wieder früh beendet.
Besonders auffällig: Auch vermeintlich kleinere Teams wie die Schweiz und Tschechien setzten sich gegen die Top-Nationen Frankreich und die Niederlande durch. Mannschaftliche Geschlossenheit und absolute Willensstärke besiegten das fußballerische Talent der Top-Nationen. Das musste auch das DFB-Team bei der 0:2-Niederlage gegen England erfahren.
"Der Unterschied ist, dass es für diese Teams ganz besondere Spiele sind. Für die Spieler der Top-Nationen sind es auch besondere Spiele, aber sie haben häufiger diese besonderen Partien", sagt Profi-Trainer und ZDF-Taktikexperte Peter Hyballa gegenüber watson.
"Länder wie Spanien, Frankreich, Deutschland, England sind immer einen Tick weiter als die Mannschaften darunter. Natürlich gibt es bessere und schlechtere Fußballnationen, aber in einem Spiel kann einfach alles passieren", erklärt Hyballa.
Und das zeigten eben vor allem die Schweiz und Tschechien mit ihrem Siegen über Frankreich und die Niederlande. Für Hyballa liegt das nicht an einer Dreier- oder Viererkette, sondern an der körperlichen Einstellung. Und auch das englische Team wirkte gegen Deutschland in den Zweikämpfen wacher und vor dem gegnerischen Tor einfach zielstrebiger.
"Das Zauberwort bei dieser EM heißt Intensität. Wir müssen wegkommen von diesem ganzen Systemquatsch. Die Frage ist, wie du dich in den Räumen bewegst, ob du es schnell machst, ob du sprintest oder einen schnellen Direktpass spielst." Und genau das machte das englische Team. Die "Three Lions" spielten ihre Tore mit schnellen, direkten Pässen heraus über die Außen viel energischer heraus. So mussten Raheem Sterling (75.) und Harry Kane (86.) den Ball nur aus wenigen Metern über die Linie bringen.
Das deutsche Team agierte offensiv oft zu zaghaft, bei möglichen Konterchancen liefen nur zwei oder drei Spieler mit nach vorn, wodurch die Angriffe im Nichts verliefen. Die beste Konterchance hatte noch Thomas Müller, der in der 81. Minuten vollkommen frei auf den englischen Torhüter Pickford zulief. Doch aus elf Metern schob er den Ball am Tor vorbei und verpasste so seinen ersten Treffer bei einer EM.
"Du bekommst auf dem Niveau nur ein, zwei hochkarätige Chancen und die musst du nutzen. Wer das erste Tor schießt, ist einfach im Vorteil", sagte U-21-Nationaltrainer Stefan Kuntz nach dem Spiel bei der ARD.
Und eine hohe Intensität könnten die vermeintlich individuell schwächeren oder nicht so spielstarken Teams auch leisten. "Schweiz und Tschechien sind den Top-Teams auf die Nerven gegangen und mannschaftlich gut zusammengeblieben", analysiert Hyballa. "Das hat einfach was damit zu tun, ob ich mich quälen kann und nicht mit Taktik." Und diesen Willen, sich zu quälen, hatten die Engländer über 90 Minuten einfach ein Stück mehr als die DFB-Elf.
Der gewohnt ehrgeizige Joshua Kimmich konnte nach dem Aus seine Tränen auch nicht zurückhalten. "Wir sind natürlich alle maßlos enttäuscht." In der Kabine herrschte laut Löw eine "Totenstille" und fügte hinzu: "Es muss jetzt schon noch die ein oder andere Stunde vergehen, um das zu verarbeiten."
Weinend liegt Kimmich in Mats Hummels Armen und muss getröstet werden. Zu groß ist die Enttäuschung über das schnelle EM-Aus bei dem 26-Jährigen.
Zur Erinnerung: Frankreich überstand die schwerste Gruppe des Turniers vor Deutschland, Portugal und Ungarn ziemlich souverän. Sie spielten aber nicht den berauschenden Offensivfußball, den man von internationalen Top-Stars wie Benzema, Mbappe, Griezmann und Pogba erwartet. Es wirkte so, als würde das Starensemble nur das wirklich Nötigste tun, um zum Erfolg zu kommen. Frei nach Motto: "Ein gutes Pferd springt nur so hoch, wie es muss."
Nach dem frühen 0:1-Rückstand gegen die Schweiz machten die Franzosen kurz Ernst und führten nach Toren von Benzema und Pogba prompt mit 3:1. Nur um in den letzten sechs Minuten noch zwei Gegentreffer zu kassieren und schlussendlich im Elfmeterschießen zu verlieren.
"Entweder müssen sie noch ein Tor schießen und mit 4:1 den Sack zu machen oder defensiv so gut stehen, dass sie kein Tor mehr bekommen", sagt Hyballa. Doch Seferovic (81.) und Gavranovic (90.) sorgten für den Ausgleich. Im Elfmeterschießen behielten alle Schweizer Schützen die Nerven – Frankreichs Superstar Kylian Mbappe scheiterte als fünfter Schütze am Schweizer Schlussmann Yann Sommer.
Vize-Weltmeister Kroatien und Spanien holperten eher durch die Gruppenphase und qualifizierten sich beide als Gruppenzweite für das Achtelfinale. Der letztendlich verdiente 5:3-Sieg nach Verlängerung der Spanier war an Spektakel aber wohl nicht zu überbieten.
Allein das Eigentor des spanischen Supertalents Pedri wird auch noch in vielen Jahren in jedem EM-Rückblick zu sehen sein. Einen Rückpass von Höhe der Mittellinie konnte sein Torhüter Unaí Símon nicht annehmen und der Ball trudelte ins Tor.
Ähnlich wie die Schweiz drehten die Kroaten innerhalb der letzten Minuten einen 1:3-Rückstand in ein 3:3, hatten dann in der Verlängerung jedoch einfach keine Kraft mehr.
"Spielerisch sind sie sehr dominant. Die Strafraumbesetzung war in den ersten Spielen nicht gut, aber war gegen Kroatien besser", findet Hyballa. Bezeichnend dafür der Ausgleich der Spanier, bei dem gleich sechs Spieler der "La Roja" im Strafraum stehen. Ein abgefälschter Schuss von Sarabia führte schließlich zum Ausgleich.
"Der Trend bei der EM, der auch nach dem Turnier bleiben wird, sind ganz klar hässliche Tore – seien es abgefälschte Schüsse oder Eigentore", erklärt der Trainerexperte, der das jedoch gar nicht so schlimm findet. "Es muss nicht immer die perfekte Lösung und schön spielen sein. Ich sage meinen Spielern auch immer, dass sie den Ball ins Tor prügeln müssen", sagt der Coach des dänischen Vereins Esbjerg fB.
Die Niederlande schoss nicht nur hässliche Tore, begeisterte in der Gruppenphase mit acht Treffern und zog ohne Niederlage ins Achtelfinale ein. Anschließend folgte das 0:2-Aus gegen Tschechien, die als bester Gruppendritter weiterkamen. Mit klassischer Manndeckung über den ganzen Platz nervten sie die Niederländer, die kein vernünftiges Passspiel aufziehen konnten.
"Sie haben oft den langen Ball provoziert, um in die Mann-gegen-Mann-Duelle zu kommen und dort sind sie gut. Und vorne haben sie mit Schick einfach einen guten Stürmer."
Was dennoch auffällig war: Keines der vermeintlich kleineren Teams stand nur tief in der eigenen Hälfte, verteidigte und wollte durch Standardsituationen zum Tor kommen. "Die Standards aller Teams sind extrem schlecht. Da sieht man als Trainer und Spieler noch viel Potenzial nach oben."
Vielmehr ist es für Hyballa auffällig, dass viele Teams sehr geordnet verteidigen, auch mit einem Rückstand gut umgehen können und dann das System wechseln. "Aber wenn sie müssen, dann rennen sie auch nach vorn."
Zwar setzt der ZDF-Experte auf Belgien als Europameister, da sie alle Facetten bedienen können, dennoch schließt er auch einen Überraschungseuropameister wie Dänemark nicht aus.