Im hohen Bogen segelt der Ball aus dem rechten Halbfeld kommend vors Tor. Weder der deutsche Mittelstürmer noch einer der großgewachsenen Innenverteidiger erreicht die Hereingabe. Einer aber springt im richtigen Moment ab, schraubt sich höher als seine Gegenspieler und wuchtet die Pille mit dem Schädel in die Maschen. Paris Brunner lässt sich nicht groß feiern, signalisiert seinen Teamkollegen stattdessen: Auf geht's, jetzt drehen wir das Spiel!
Es ist das Halbfinale der U17-EM, der Linksaußen hat gerade zum 2:2 gegen Polen eingenickt. Zweimal hatte die DFB-Elf bis dahin zurückgelegen. Der Weckruf Brunners zeigt Wirkung, die deutsche Nationalmannschaft dreht die Partie in der Folge und stürmt mit einem fulminanten 5:3-Sieg ins Finale. Auch das soll sie später für sich entscheiden. Der Treffer Brunners ist dabei gleichermaßen ein Symbolbild wie eine Ausnahme.
Der 17-Jährige bringt mit 1,86 Meter zwar eine in Luftduellen vorteilhafte Körpergröße mit, per Kopf trifft er dennoch eher selten. In der Szene zeigt sich aber der unbändige Willen des Offensivspielers, der in Kombination mit seiner körperlichen Wucht nur wenige Verteidiger seines Alters standhalten können.
"Ich versuche, mit viel Tempo, Wucht und Zielstrebigkeit in Richtung Tor zu agieren, gehe oft ins Dribbling beziehungsweise Eins-gegen-Eins und suche schnell den Abschluss", erklärte er seinen Spielstil gegenüber "dfb.de". Letzteres gelingt ihm oftmals herausragend gut, ein Blick auf die Zahlen lassen dabei keine zwei Meinungen zu.
Mit 19 Toren in 24 Länderspielen ist Brunner der zweitbeste Torjäger in der Geschichte des deutschen U17-Teams. Zur Bestmarke fehlt ihm nur ein Treffer. In seinem Klub, bei Borussia Dortmund, läuft es aus sportlicher Perspektive nicht schlechter. In der laufenden Saison steht er bei zehn Buden in acht U19-Bundesliga-Partien. Im Vorjahr waren es absurde 16 Treffer in sechs U17-Bundesliga-Spielen.
Brunner weiß, wo das Tor steht. "Ich bin als Stürmer geboren. Da vorne fühle ich mich einfach wohl", erklärte er im Gespräch mit "Reviersport". Auf eine einzelne Position ist er dabei nicht festgelegt. Während der 17-Jährige im Verein meist als Mittelstürmer agiert, setzt ihn Nationaltrainer Christian Wück stets als Linksaußen ein.
Dass er sich nach eigenen Angaben mit Flügelstürmer Leroy Sané identifiziert, darf aber zumindest als Fingerzeig gedeutet werden, wo sich Brunner am wohlsten fühlt. Beim Bayern-Star sieht er laut "dfb.de" "einen ähnlichen Spielstil" wie bei sich selbst. "Seine Anlagen gefallen mir: Er ist schnell, flink, torgefährlich und geht oft ins Eins-gegen-Eins."
Diese Stärken hat Brunner auch schon eindrucksvoll bei der laufenden U17-Weltmeisterschaft in Indonesien unter Beweis gestellt, gerade in der K.o.-Phase. Gegen die USA legte er den 3:2-Siegtreffer auf, gegen Spanien holte er einen Elfmeter heraus und verwandelte diesen zum 1:0-Sieg. Der vorläufige Höhepunkt folgte gegen Argentinien.
Mit einem wuchtigen Abschluss besorgte er zunächst die 1:0-Führung, mit einem feinen Schlenzer später den 2:2-Ausgleich. Als es ins Elfmeterschießen ging, zeigte sich der Youngster nervenstark und verwandelte den letzten Strafstoß eiskalt.
In Anbetracht der Überzeugung, mit der er dabei angetreten ist, verwundert auch Brunners zweites Vorbild innerhalb der deutschen A-Nationalmannschaft nicht: "Antonio Rüdiger, weil er ein Mentalitätsmonster ist." Einstellung und Wucht sind allerdings die einzigen Faktoren, die beide Akteure miteinander verbinden.
Naturgemäß ist Offensivspieler Brunner in der Arbeit gegen den Ball nicht so stark wie ein Verteidiger, der für Real Madrid die Knochen hinhält. Dass der 17-Jährige aber auch im Vergleich mit anderen Angreifern Nachholbedarf hat, zeigte sich etwa im Halbfinale gegen Argentinien. So ließ sich Brunner im eigenen Strafraum einmal weitestgehend widerstandslos abkochen, ermöglichte den Südamerikanern so den Treffer zum zwischenzeitlichen 1:1.
Unter dem Strich lässt sich dennoch festhalten, dass der diesjährige Gewinner der Fritz-Walter-Medaille in Gold den großen Erwartungen an seine Person gerecht wird. Wie schon bei der EM im Frühjahr, bei der sich Brunner nicht nur die Auszeichnung als Torschützenkönig, sondern auch als bester Spieler des Turniers gesichert hat.
Im Juni trat der Dortmunder damit in die Fußstapfen von Toni Kroos und Mario Götze, die einst ebenfalls als MVP ausgezeichnet wurden. "Es ist eine große Ehre für mich, diese individuelle Auszeichnung bekommen zu haben. Wenn man diese Namen hört und im gleichen Zug erwähnt wird, fühlt man sich natürlich besonders", erklärte er.
"Paris hat gezeigt, dass er in großen Spielen den Unterschied machen kann", erklärte Joti Chatzialexiou, Sportlicher Leiter der Nationalmannschaften, im Gespräch mit "bvb.de". Wenn es am Samstag im WM-Finale gegen Frankreich geht, soll er das wieder zeigen.
Dass der Youngster beinahe gar nicht beim Turnier dabei gewesen wäre, spielt längst keine Rolle mehr. Im Oktober wurde er beim BVB suspendiert, selbst ein kompletter Rauswurf stand Medienberichten zufolge zur Debatte. Kurz vor der WM wurde er letztlich begnadigt und daher auch von Nationaltrainer Wück nominiert.
Über die Hintergründe des Vorfalls ist bis heute nichts bekannt, der Klub sprach lediglich von "disziplinarischen Gründen". Spekulationen verbieten sich indes aufgrund seines Alters, Brunner ist schließlich minderjährig.
Dem öffentlichen Eindruck dieses Vorfalls zum Trotz macht der 17-Jährige ansonsten einen äußerst geerdeten Eindruck. "Elf starke Einzelspieler verlieren immer gegen ein starkes Team. Unser Schlüssel war die Mannschaftsleistung", erklärte Brunner etwa demütig den EM-Triumph in Ungarn.
Wiederholt brachte er zudem schon die Dankbarkeit für seine Eltern zum Ausdruck, da diese ihn auf seinem Weg permanent begleiten. Seine Mutter habe ihm stets "Mut zugesprochen und immer daran geglaubt, dass ich es schaffe, mich durchzusetzen".
In seinem Jahrgang hat Brunner das zweifelsohne geschafft. All die Tore, Auszeichnungen und Erfolge mit seinen Mannschaften sprechen eine eindeutige Sprache. Es hat schon Youngster gegeben, die sich auf derartigen Lorbeeren ausgeruht haben, der Dortmunder scheint nicht in die Kategorie zu fallen. "Noch habe ich es nicht nach ganz oben geschafft, aber ich bin auf dem richtigen Weg." Dieser wird ihn in die Bundesliga führen, womöglich schon in der Rückrunde.