Es war eine große Unzufriedenheit herauszuhören am Sonntagabend nach dem Nations-League-Spiel der deutschen Nationalmannschaft gegen die Schweiz (1:1). Vor allem Mittelfeldspieler Ilkay Gündogan war nach Abpfiff richtig sauer. Oder um es mit seinen eigenen Worten zu sagen, er war "ein bisschen angepisst": "Wir haben unnötig Bälle verloren. Wir hätten die zweite Halbzeit eiskalt durchziehen müssen, daran müssen wir arbeiten." Der Punktgewinn gegen die Eidgenossen sei am Ende sogar "Glück" gewesen, sagte der Profi von Manchester City. Und weiter: "Insgesamt ist es sehr ärgerlich, und es geht mir ein bisschen auf den Sack." Deutliche Worte vom ehemaligen Dortmunder.
Toni Kroos merkte an, dass die Mannschaft nicht eingespielt sei. "Trotzdem müssen wir es hintenraus besser machen. Wir hatten viel zu viele Ballverluste." Auch Bundestrainer Jogi Löw war etwas enttäuscht über das magere Ergebnis, nachdem sein teilweise neu formiertes Team auch schon am Donnerstag nach einer 1:0-Führung nur ein 1:1 gegen Spanien schaffte.
Die Nationalelf agierte auch aufgrund von fast zehn Monaten Corona-Pause, eines unterschiedlichen Fitnessstands der Spieler und des Verzichts auf ein halbes Dutzend Stammkräfte diesmal noch nicht fehlerfrei und konsequent über 90 Minuten. Das hatte Löw angesichts der besonderen Situation quasi eingeplant: "Das habe ich fast schon erwartet."
Diese ganz spezielle Länderspielwoche löste bei Löw "gemischte Gefühle" aus. Dann gab er trotzig die Richtung vor: "Im Oktober greifen wir richtig an", verkündete er. Dann sollen mit den Rückkehrern um Kapitän Manuel Neuer endlich wieder Erfolgserlebnisse her.
Ansätze für erfolgversprechende Leistungen der Nationalmannschaft sind zwar da. Die Ergebnisse stimmen aber noch nicht. Die Qualität in der neuen Nationalmannschaft ist da, doch eine echte Weiterentwicklung der jungen Mannschaft im Sinne des von Löw forcierten Umbruchs seit der WM 2018 ist aktuell noch nicht zu erkennen.
Ein alte Fußballerweisheit besagt: Wenn du die Tore vorne nicht machst, kriegst du sie hinten rein. Klingt abgedroschen, ist es auch, aber es ist viel Wahres dran. Denn wenn die Spieler auf dem Platz mehr aus ihren Möglichkeiten gemacht hätten, das 2:0, das 3:0 geschossen hätten, wäre kurz vor Schluss nichts mehr angebrannt.
Der Bundestrainer weiß das auch, er fasste nach dem Spiel zusammen: "Wir haben es einfach wieder versäumt, das 2:0 zu machen. Das hätte uns Sicherheit gegeben. Wir schaffen es nicht, aus den guten Möglichkeiten Kapital zu schlagen."
Im Spiel nach vorne gab es viele Ballverluste in Form von einfachen Fehlpässen, selten wurden Angriffe konsequent ausgespielt. In der finalen Aktion war die Nationalelf zu ungefährlich, zu ungenau. Generell fehlten Konzentration, Kreativität und Inspiration. "Es war leider ähnlich wie gegen Spanien, da können wir definitiv daran arbeiten, dass wir da mehr Lösungen haben und als Mannschaft mehr Selbstvertrauen", sagte Toni Kroos.
Der DFB-Elf eröffneten sich durch das Powerplay der Schweizer, die am Donnerstag noch mit 1:2 in der Ukraine verloren hatten, zwar immer wieder auch Kontersituationen. Julian Draxler hätte beispielsweise in der 31. Minute nach Zuspiel von Timo Werner auf 2:0 erhöhen müssen, der Schuss des herangerauschten PSG-Profis war aber schwach, ging direkt auf Torwart Yann Sommer. Dennoch rief Löw nach der Aktion laut: "Sehr gut!" Auch in der 52. Minute rauschte ein Schuss von Draxler vorbei.
"Saubere Pässe", forderte Löw zur Mitte der zweiten Halbzeit von seinen Spielern. Doch gerade als seine Spieler die Partie in den Griff zu bekommen schien, erzielte Silvan Widmer den Ausgleich. Dem Tor ging ein böser Fehlpass des für Leroy Sané eingewechselten Julian Brandt voraus, der den Ball völlig unbedrängt in die Füße seines BVB-Kollegen Manuel Akanji spielte.
Die Abwehrarbeit der deutschen Defensive sah beim Gegentor dann aber auch nicht sonderlich gut aus. Die meisten Spieler trabten nach dem Brandt-Fehler nur zurück, anstatt alles dafür zu geben, den verlorenen Ball mit vereinten Kräften zurückzuerobern. Und was außerdem auffiel: Die Nationalspieler haben in dieser Situation nicht miteinander gesprochen. Mit besserer Kommunikation hätte man den Ausgleichstreffer sicher noch verhindern können.
Dass auf dem Platz untereinander nicht viel gesprochen wird, fiel auch schon im Spiel gegen Spanien negativ auf. "Ich bin enttäuscht, was das Thema Kommunikation betrifft", befand ZDF-Experte und Ex-Nationalspieler Per Mertesacker am Donnerstag während der Halbzeitanalyse. Bei den zurückliegenden Champions-League-Partien des FC Bayern München sei beispielsweise viel mehr gesprochen worden.
Durch die coronabedingt leeren Ränge kann man im Stadion oder am Fernseher die Kommandos auf dem Platz momentan eigentlich gut verstehen. Auf der Tribüne im St.-Jakob-Park in Basel waren meist aber nur Löw sowie die Routiniers Kroos und Gündogan zu hören.
Die neue Nationalmannschaft, das ist auch für den Bundestrainer eine der wichtigsten Erkenntnisse, ist zu leise. Dabei hatte Löw bereits im Training lautstark eingefordert, dass sich die Profis untereinander coachen müssen. Vor dem Spiel in der Schweiz wies er noch einmal eindringlich darauf hin – vergeblich.
Einen Lautsprecher, eine Spieler, der die anderen mitreißen und motivieren kann, vermisst man derzeit auf dem Platz. Der von Löw geschasste Ex-Nationalspieler Thomas Müller ist eigentlich so einer. Doch "Radio Müller", so der Spitzname des bayerischen Dauerplapperers auf dem Feld, wird aber nicht mehr nominiert werden. Löw würde im Fall des Bayern-Stars nur im absoluten Notfall eine Rolle rückwärts machen.
Also ruhen die Hoffnungen auf Müllers Vereinskollegen, den Champions-League-Siegern wie Manuel Neuer, Leon Goretzka und Joshua Kimmich. Denen gönnte der Bundestrainer eine Pause, sagte: Kommandos und Anweisungen auf dem Feld zu geben, sei "auch eine Sache von Reife und Persönlichkeit. Ich habe gesagt, wenn man sich lautstark coacht, gibt das Energie und ist eine große Hilfestellung, manche sind da zurückhaltend. Auch da müssen wir besser werden – und das wird im Oktober besser, da werden wir lauter sein, wenn Spieler zurückkommen, die sich die Verantwortung nehmen zu coachen."
Doch es liegt aktuell nicht nur an den vielen Ks, die dem Team abgehen (Kommunikation, Konzentration, Konsequenz, Kreativität). Es mehren sich außerdem Bedenken, ob Löws 3-4-3-System aktuell zur Nationalelf passt.
Per Mertesacker sagte in der ZDF-Analyse nach dem Spielende gegen die Schweiz, dass er "große Zweifel" habe, ob die Dreierkette das Richtige für diese Mannschaft sei. Der Experte empfiehlt, wie es beispielsweise beim WM-Triumph 2014 der Fall war, wieder auf das 4-2-3-1-System zu setzen: "Mit zwei starken Innenverteidigern, zwei guten Sechsern und einem klaren Zehner".
Und weiter: "Ich hoffe, dass wir eine klare Struktur haben, wenn unsere Offensivkräfte wie Serge Gnabry und Kai Havertz zurückkehren. Im 4-2-3-1 mit der Viererkette kennt sich Jogi Löw am besten aus, wie man sich gegenseitig am besten absichert. Das war heute selten der Fall", urteilte der Ex-Profi. Auch ein Gros der Nationalspieler spielen in ihren Vereinen meist mit Viererkette, sind diese Formation gewohnt, zum Beispiel die Stars des FC Bayern München.
Im aktuellen 3-4-3-System ist zum Beispiel für einen offensiven Mittelfeldspieler wie Kai Havertz kaum ein Platz frei, wenn man davon ausgeht, dass Joshua Kimmich und Toni Kroos in dieser Grundformation die beiden zentralen Mittelfeldplätze besetzen und vorne Gnabry, Sané und Werner wirbeln.
Außerdem bedeutet 3-4-3 auch immer, dass nominell fünf Defensivspieler auf dem Platz stehen: Drei Innenverteidiger und zwei eher defensiv orientierte Außenbahnspieler im Mittelfeld, die die komplette linke beziehungsweise rechte Seite beackern müssen. Neuling Robin Gosens zeigte zwar gute Ansätze nach vorne auf dem linken Flügel, doch sein Rechtsaußen-Pendant Thilo Kehrer schien zumindest gegen die Schweiz etwas überfordert mit den offensiven Aufgaben. Das Spiel der Nationalelf wirkte zuletzt oft statisch. Vor und hinter dem zentralen Zweiermittelfeld aus Kroos und Gündogan klafften Lücken.
Im kompakteren 4-2-3-1, das auch leicht zu einem 4-3-3 variieren kann, wäre mehr Platz für Mittelfeldspieler, und auf dieser Position hat Deutschland eigentlich die meiste fußballerische Qualität: Havertz, Kimmich, Kroos, Gündogan, auch Bayern Münchens Leon Goretzka wird den Ehrgeiz haben, als Triple-Sieger in der Nationalelf einen Stammplatz zu haben.
Löw steht auf dem Weg zur Europameisterschaft, die aufgrund der Corona-Pandemie in den Sommer 2021 verschoben wurde, also noch vor mindestens drei großen Aufgaben. Doch wenn die geschonten Triple-Sieger aus München sowie die zwei Champions-League-Halbfinalisten aus Leipzig und auch der neue Chelsea-Profi Kai Havertz wieder dabei sind, werde es auch mit dem ersten Sieg in der Nations League klappen, ist der Bundestrainer überzeugt. Auf jeden Fall werde es noch eine intensive Analyse geben: "Wir werden die Spiele nochmal anschauen und werden uns überlegen, was im Oktober zu tun ist."
Denn dann will er ja "angreifen".
(as/mit Material von dpa und sid)