"Da Ya Think I’m Sexy?", fragt Rod Stewart zwei Tage vor dem Eröffnungsspiel gegen Frankreich die beschwingt mitwippenden österreichischen Nationalspieler, die als Teambuildingmaßnahme von Teamchef Ralf Rangnick dem Konzert in Berlin einen Besuch abgestattet haben. "Ja, Ja, Ja!", erwidern die Hipster unter den Tippspielenden geifernd, die Österreich schon längst als nicht mehr ganz so geheimen EM-Sieger auserkoren haben. So stellen wir uns das zumindest vor, die Social-Media-Deklaration des ÖFB hat es leider verpasst, das entsprechende Videomaterial mitzuliefern.
Es war der Österreichische Fußball-Bund selbst, der Anfang Mai mit markigem Ausrufezeichen die Botschaft verkündete, die das leichte Hoffnungslodern zu einem mittelschweren Flächenbrand befeuerte – und gleichzeitig als verhaltenen Mittelfinger in Richtung der nördlichen Nachbarn zu verstehen war: "Ralf Rangnick hat sich entschieden!"
Nicht etwa, wie im zweckpessimistischen Österreich in den Wochen davor bereits als gegeben verstanden wurde, für den größten deutschen Verein FC Bayern München, sondern weiterhin für die österreichische Nationalmannschaft. "Habe auf mein Herz gehört", lautete die Begründung. Am Montag starten der gebürtige Schwabe und sein Team gegen Frankreich (21 Uhr) in das Turnier.
Seit Ende Mai 2022 ist Rangnick Trainer der österreichischen Nationalmannschaft, er übernahm das Amt aus einer Paradoxie heraus. Sein ebenfalls deutscher Vorgänger Franco Foda war seit November 2017 Teamchef, qualifizierte sich 2021 erstmals für die K.-o.-Runde bei einer EM und hatte den drittbesten Punkteschnitt aller ÖFB-Trainer. Trotzdem interessierten sich zunehmend weniger Fans für die Mannschaft.
Zu defensiv, zu schüchtern und immer etwas wankelmütig – eine Herangehensweise, die dem Spielermaterial diametral gegenüber stehe. So lautete die Kritik der österreichischen Presse. Rangnick kam und hauchte der Mannschaft wieder Leben und eine klare Spielidee ein. Schon wieder. Schon wieder hatte Ralf Rangnick eine Mannschaft von Grund auf revolutioniert.
Wir erinnern uns: Auf Ralf Rangnick lässt sich mittelbar die vereinte Wut der Bundesliga-Traditionalisten zurückführen. Zu seinem Lebenswerk gehört das Aufpäppeln der als Retortenprodukte verpönten Vereine TSG Hoffenheim und RB Leipzig, die sich unter seiner Leitung in die Bundesliga lavierten. In kleineren Skalen hatte er das schon zuvor bei Schalke gemacht. Und in Stuttgart. Und Ulm.
Das war zwar immer von Erfolg geprägt, hinterließ aber mitunter auch eine Schneise der Verwüstung. Ralf Rangnick ist der Sonnenkönig unter den Fußballlehrern. Ein Revoluzzer, der neben sich keine anderen Götter erlaubt: Der Verein, das bin ich. Sein Gestaltungswille touchiert auch immer den Toleranzbereich des Größenwahns. Wo Rangnick ist, bleibt kein Stein auf dem anderen.
Sein Ruf eilt ihm voraus, und so kam es dazu, dass er 2020 die Wut der Mailänder Vereinsikone Paolo Maldini auf sich gezogen hatte, als über ein Arbeitsverhältnis Rangnicks bei der AC rumort wurde. Rangnick wolle die "ganze Macht", polterte Maldini, die angeblichen Forderungen seien wie ein "Platzsturm".
Zu dem Zeitpunkt lernte Rangnick schon seit Monaten Italienisch, deswegen hatte Maldini einen Rat: "Bevor er Italienisch lernt, sollte er das Konzept von Respekt überdenken."
Die vorauseilende Skepsis war auch im strukturkonservativen Österreich weit verbreitet, seiner ersten Station im Verbandsfußball. Und der Grund, warum die Begrüßung in Teilen der Austro-Öffentlichkeit alles andere als freundlich ausfiel.
Der gebürtige Schwabe war kaum im Amt, da setzte es die erste Volte Rangnickschen Ideenreichtums. Sein Vorschlag: Man solle vom 1933 erbauten Ernst-Happel-Stadion in die modernere Spielstätte von Rapid Wien umziehen. Bei seinem Debüt war zuerst das Flutlicht ausgefallen, später hatte sich noch ein wassermelonengroßes Loch auf dem Platz aufgetan.
Dafür legte er sich mit den Rapid-Ultras an, die die Nationalmannschaft nicht auf ihren heiligen Rängen haben wollten. "Die Ultras haben hier ihr Revier", sagte ein Fan, "da können keine Austrianer stehen". Rangnick fand sich damit schließlich ab, er hatte ohnehin schon andere Ideen: unter anderem ein eigens für die Nationalmannschaft komponiertes Lied in Auftrag zu geben. Heraus kam: "hoch gwimmas (n)imma" von AUT of ORDA.
Mittlerweile – mehr als zwei Jahre sind seit Rangnicks Amtsantritt vergangen – sind die Nörgler verstummt und überstimmt; kaum einer matschkert oder sudert noch, um einmal die erheblich klangvolleren Austriazismen zu bemühen.
Österreich hat aus den vergangenen sieben Spielen sechs gewonnen, für die EM-Endrunde qualifizierte man sich souverän, mit nur einem Punkt Rückstand knapp hinter Belgien. "Rangnick hat uns ein neues Denken beigebracht", sagte Leipzig-Profi Christoph Baumgartner. "Wir machen uns nicht mehr in die Hose."
Bei der EM wartet in Gruppe D nun die wohl härteste Konstellation des Turniers auf Österreich. Auf das Auftaktspiel gegen Frankreich in Düsseldorf folgen zwei Spiele in Berlin, wo das Team auch während des gesamten Turniers residiert: erst gegen Polen, dann gegen die Niederlande.
Das Grundgerüst bilden dabei Spieler, die wie ihr Lehrer allesamt RB-Migrationshintergrund haben: Konrad Laimer, Marcel Sabitzer, Christoph Baumgartner, und Nicolas Seiwald stehen symptomatisch für die Fußballschule, die vor einigen Jahren im Land Salzburg gekeimt und sich zu einer der einflussreichsten Philosophien des modernen europäischen Fußballs gemausert hat.
Die von Rangnick maßgeblich geprägte Philosophie, benannt nach dem österreichischen Brausehersteller, umfasst überfallartigen Angriffsfußball, konsequentes Pressing und vertikales Umschaltspiel.
Dass Rangnick wieder nach Österreich zurückgekehrt ist, nachdem er 2012 als Sportdirektor in Salzburg den Siegeszug des Red-Bull-Imperiums und der dahinterstehenden Spielidee mit angestoßen hat, würde man wohl als "Full Circle Moment" beschreiben.
Dabei ist die Spielweise längst nicht mehr Rangnicks Alleinstellungsmerkmal. Beim Testspielsieg gegen Serbien war zu sehen, dass Österreich auch zweikampfbetonte Spiele gewinnen sowie tief verteidigen kann. Genauso wie die Mannschaft besser mit langen Ballbesitzphasen umgeht.
Auch deshalb ist es in dem zusammengeschweißten Teamgefüge bislang nicht stärker ins Gewicht gefallen, dass zwei der nominell besten Spieler verletzungsbedingt nicht dabei sein werden: David Alaba reist nur als NPC mit, also als "Non-Playing Captain", eine Art Co-Trainer – jede andere Deutung und Ausbuchstabierung des Akronyms verbittet sich.
In der Abwehr kommt daher eine zentrale Rolle auf Kevin Danso zu, der mit dem RC Lens im vergangenen Jahr fast Rekordmeister PSG in Frankreich entthront hatte.
Der andere Leistungsträger Xaver Schlager muss – wie sein Namensvetter, Stammtorwart Alexander – nach seinem Kreuzbandriss komplett passen. Die Rolle als "Staubsauger" vor der Abwehr übernimmt der als Lieblingsschüler von Rangnick geltende Seiwald bislang mit Bravour.
Als sich Österreich im Oktober mit einem 4:1-Sieg gegen Aserbaidschan die endgültige Qualifikation für die EM gesichert hat, wurden T-Shirts gereicht. Darauf stand, weiß auf rotem Grund: "Alles machbar beim Nachbar." Schon zwei Jahre zuvor, die Qualifikation für das Turnier hat noch nicht einmal begonnen, hatte sich Rangnick nach EM-Quartieren umgeschaut.