Der Trainer ist das schwächste Glied in der Kette. Zwei Euro ins Phrasenschwein. Wenn der Erfolg eines Klubs ausbleibt, dann wird am Trainerstuhl gesägt. Zwei Euro ins Phrasenschwein. Coach feuern, einen neuen einstellen, der dann neue Impulse setzen soll. Zwei Euro ins Phrasenschwein.
Oft passiert so eine Trainerentlassung unter öffentlichem Druck, oft ist sie wenig rational. Bei Borussia Dortmund hat sich jener Druck auf Trainer Lucien Favre durch die 1:3-Niederlage in Barcelona weiter erhöht. Noch ist er im Amt. Doch bei Hertha BSC mit dem neuen Coach Jürgen Klinsmann muss am Samstag ein Sieg her.
Favre arbeitet auf Bewährung. Nur drei Punkte in Berlin können wohl sein Aus beim achtmaligen deutschen Meister noch verhindern, wenn man die eingangs erwähnten Branchenmechanismen zu Grunde legt, die das Phrasenschwein fütterten.
Nach dem Barcelona-Spiel waren sich alle einig: Gegen Hertha "wollen wir die Trendwende und den Anschluss an die oberen Plätze schaffen", sagte Sportdirektor Michael Zorc. Lizenzspielerchef Sebastian Kehl stellte klar, dass "wir dringend in die Erfolgsspur zurück müssen". Torwart Roman Bürki sagte mit Blick auf den Auftritt im Olympiastadion: "Ein Sieg ist Pflicht."
Solche Durchhalteparolen schmettern die Verantwortlichen, die Spieler und auch der Trainer seit Wochen raus. Der BVB hangelt sich seit der Niederlage in München (0:4) von Schicksalsspiel zu Schicksalsspiel, von Bewährungsprobe zu Bewährungsprobe.
Viele Fans und Experten sind sich einig: Favres Entlassung ist längst überfällig. Viele wären den Trainer, mit dem sie fremdeln, lieber schon gestern als heute los. Doch die Sache ist komplex.
Lucien Favre ist zwar derjenige, der beim BVB die Verantwortung für das Team, dessen Lust und Launen, die Taktik und die Ergebnisse trägt. Aber ist Kettenglied Favre wirklich das schwächste?
Eher ist die gesamte BVB-Kette gerade brüchig. Und deswegen ist eine Entlassung von Favre, die seit Wochen im Raum steht, auch so verzwickt.
Favres Punkteschnitt in seiner bisherigen Amtszeit beim BVB beträgt 2,02 pro Spiel – zum Vergleich der Punkteschnitt von Dortmunds Darling Jürgen Klopp: Der Meistertrainer holte mit dem BVB im Schnitt 1,9 Punkte pro Spiel.
Lucien Favre hat im Kalenderjahr 2019 erst vier Mal mit Borussia Dortmund verloren, immer auswärts: Gegen Union Berlin (1:3), Inter Mailand (0:2), Bayern München (0:4), Barcelona (1:3). Bis auf die Niederlage bei Aufsteiger Union sind das alles Gegner, gegen die man mal verlieren kann.
Der riesengroße Misserfolg, der schonungslos alle BVB-Missstände aufzeigt und nicht mehr an einer Trainerentlassung vorbeiführt, blieb aber bisher aus. Selbst den peinlichen 0:3-Halbzeitrückstand gegen Paderborn konnte das Team am Ende noch zu einem 3:3 umbiegen.
Vereinsboss Hans-Joachim Watzke appellierte auf der Jahreshauptversammlung nach dem Paderborn-Spiel an das Team: "Reißt euch zusammen, strafft euch. Wir sind Borussia Dortmund, das muss man sehen. Wir erwecken nicht den Eindruck einer Einheit auf dem Platz. Versucht so aufzutreten, wie das von Borussen erwartet wird."
Und tatsächlich kann man von den Borussen mehr erwarten. Der Kader hat unheimliches Potenzial. Nachdem der BVB im Sommer Abermillionen für Julian Brandt, Nico Schulz, Mats Hummels und Thorgan Hazard ausgab, halten viele Fans den Kader für einen der besten aller Zeiten. Favre solle diesen gefälligst zu Titeln führen.
Doch langsam kristallisiert sich heraus: Hazard ist "nur" ein guter Bundesliga-Spieler, Brandt liefert nur, wenn er auf der richtigen Position spielt, Schulz hat noch keine internationale Klasse und Hummels ist nicht frei von Fehlern. Der Abwehrchef leistete sich vor dem 2:0 von Barcelona am Mittwochabend einen folgenschweren Fehlpass, eine Unkonzentriertheit, die Favre von außen nicht beeinflussen kann.
Die BVB-Spieler scheinen zu wissen, dass es eher an ihnen als am Trainer liegt. Der Großteil der Spieler zeigte sich nach dem Barca-Spiel selbstkritisch. Hummels sagte: "Wir waren okay, aber nicht gut genug, um Barcelona zu schlagen. Wir hatten gute Phasen, aber auch schlechte, gekrönt von meinem Fehlpass. So ein Fehler darf nicht passieren. Wenn so etwas passiert, verliert man zurecht. Das wurmt mich extrem."
Auch Kapitän Marco Reus mahnte und nahm sein Team in die Pflicht: "Es läuft bei uns momentan nicht in die richtige Richtung. Wir kommen im letzten Drittel nicht richtig nach vorne. Da müssen wir zielstrebiger sein, auch mal einen riskanten Pass spielen. Und wenn wir den Ball verlieren, früher und höher pressen".
Bisher versuchen die BVB-Bosse eine Favre-Entlassung noch zu vermeiden. Wenn Borussia Dortmund Lucien Favre aber doch entlassen sollte, müsste sich die sportliche Führung viele Fragen gefallen lassen. Und je mehr Zeit ins Land streicht, desto unangenehmer werden die Fragen sein:
Nicht zuletzt müsste bei einer Entlassung Favres die Frage gestellt werden: Wer wird der Nachfolger? Denn viele Alternativen gibt es nicht. Julian Nagelsmann (damals Hoffenheim, jetzt Leipzig), Florian Kohfeldt (Werder Bremen) oder Marco Rose (damals RB Salzburg, jetzt Gladbach) wären vielleicht im Sommer für Dortmund verfügbar gewesen. Jetzt sind sie allerdings (vorerst) vergeben.
Arbeitslose Trainer wie Bruno Labbadia, Markus Weinzierl, Tayfun Korkut, Markus Anfang, André Breitenreiter oder Heiko Herrlich haben wenig bis gar kein internationales Format – und bevor man einen dieser Namen auf die Dortmunder Trainerbank setzt, kann man auch Favre behalten.
Einzig der bei Tottenham Hotspur entlassene Mauricio Pochettino wäre jemand, der eventuell zu Dortmund passen könnte. Doch Pochettino hat in London angeblich knapp zehn Millionen Euro im Jahr verdient. Lucien Favre soll in Dortmund knapp vier Millionen Euro Jahressalär erhalten. Es ist auch alles eine Frage des Geldes.
Hans-Joachim Watzke sagte auf der Jahreshauptversammlung in Dortmund: "Lucien, du hast weiterhin unser Vertrauen, aber eins ist klar: Am Ende ist Fußball immer über Ergebnisse definiert." Das "am Ende" macht deutlich, dass Favre nicht mehr viel Kredit hat. Watzke sagte aber auch: "Wir hoffen, dass es gelingt, eine Wende zum Positiven herbeizuführen." Denn selbst wenn Favre gehen muss, einfacher wird es für Borussia Dortmund dann sicherlich nicht.
(as)