"Wir sind im Turnier angekommen", freute sich Bundestrainer Joachim Löw nach dem völlig verdienten 4:2-Sieg über Europameister Portugal am Samstagabend. Nach der offensiv schwachen Leistung im ersten Gruppenspiel gegen Weltmeister Frankreich hatte die DFB-Elf nun ein offensives Feuerwerk abgebrannt. Am Ende standen vier Tore, 12 Torschüsse und ein Abseitstor auf dem Statistikbogen.
Doch dort tauchten auch zwei Gegentreffer auf – und die fielen beide nach Standardsituationen. Selbst wurde das DFB-Team jedoch weder im ersten Spiel gegen Frankreich noch gegen Portugal gefährlich über ruhende Bälle. Nachdem die Offensive nun zu funktionieren scheint, muss der Bundestrainer diese Baustelle schnellstmöglich schließen.
Das erste Tor der Portugiesen in der 15. Minute fiel nach einem blitzsauberen Konter, nach eigener Ecke von Deutschland. Es gab keine Konterabsicherung der deutschen Nationalelf. Die defensive Ordnung bei Standardsituationen war nicht immer sattelfest. Darin sah auch Bastian Schweinsteiger das einzige Manko: "Da waren die Portugiesen immer gefährlich. Selbst bei einer Standardsituation von uns."
Champions-League-Sieger Kai Havertz, der bei Temperaturen über 30 Grad mit langen Ärmeln spielte, machte beim Führungstreffer der Portugiesen keine gute Figur. Der 22-Jährige zeigte eben, dass seine Qualitäten eher in der Offensive liegen und nicht beim Verteidigen des eigenen Tores. Löw gab ihm dennoch erneut das Vertrauen und ließ Leroy Sané, Timo Werner und Leon Goretzka auf der Bank. Havertz zahlte das Vertrauen des Bundestrainers eindrucksvoll zurück und hatte bei den ersten drei Treffern immer seine Füße im Spiel: "Von der Kritik habe ich nicht so viel mitbekommen. Ich versuch da einfach locker zu bleiben, vertrau meinen Stärken und bin froh heute ein Tor dazu beigesteuert zu haben."
Auch das zweite Tor Portugals fiel nach einem Standard. Freistoß Portugal auf den zweiten Pfosten, Ronaldo hebt den Ball über Neuer und Jota muss den Ball nur noch einschieben. Das gefiel dem Bundestrainer auch überhaupt nicht: "Standardsituationen stehen schon länger auf dem Programm. Da ist es schon wichtig, dass wir da nochmal drauf hinweisen. Wir haben eigentlich klare Rollen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass das nicht klar umgesetzt wird", sagte er bei der ARD.
Bereits im ersten Gruppenspiel war es die schlechte Verteidigung nach einem Einwurf, die das Eigentor von Mats Hummels eingeleitet hatte. Vor dem Turnier legte der Bundestrainer großen Wert auf die Standardsituationen. Fünf von 36 Gegentoren nach der WM 2018 fielen nach gegnerischen Ecken. Das wollte der Bundestrainer vor der EM grundlegend analysieren und angehen.
"Aus Standards haben wir in den letzten zwei, drei Jahren einfach zu viele Tore bekommen. Das ist total ausbaufähig und wird natürlich auch sicherlich ein Schwerpunkt werden", sagte Löw vor dem Trainingslager in Seefeld. Dort gab es laut Sport1 sogar ein 55-Minütiges Geheimtraining, in dem nur offensive und defensive Standards trainiert wurden. Doch schon damals nur mit mäßigem Erfolg. So soll Co-Trainer Marcus Sorg einige Eckbälle mit den Worten: "Das ist Kreisliga B, Mensch!", kritisiert haben.
Auch die offensiven Standardsituationen sind bislang noch keine Waffe. Drei von 60 Toren nach der WM 2018 sind aus Standardsituationen entstanden. Zwei davon nach Ecken, bei 167 Versuchen. Bei der aktuellen EM kam für DFB-Elf bislang noch kein Tor hinzu. Trotz der Rückkehr des kopfballstarken Mats Hummels. Gegen Frankreich und Portugal waren es insgesamt acht Ecken – kaum eine war gefährlich.
Wie wichtig Standards sein können, hat der WM-Erfolg 2014 gezeigt. Vier Tore erzielte die DFB-Elf damals im gesamten Turnier bei einem ruhenden Ball. Darunter auch das entscheidende 1:0 durch Mats Hummels im Viertelfinale gegen Frankreich. Für viele ein Schlüsselspiel auf dem Weg zum Weltmeistertitel.
Doch trotz der akuten Standardschwäche kam das Team von Jogi Löw zu vielen guten Chancen. Die DFB-Elf hatte die Schwachstellen der Portugiesen ausgemacht und mit Gosens und Kimmich zwei entscheidende Spieler in den eigenen Reihen. Die beiden Außenverteidiger waren an allen vier Toren beteiligt. Zudem wurden viele Angriffe der deutschen Nationalmannschaft nach dem gleichen Muster über die Beiden vorgetragen. Überlagerung einer Seite, meistens der rechten, und dann eine schnelle Spielverlagerung auf die andere Seite. So geschehen vor dem 1:1 und 3:1, beide vorbereitet von Robin Gosens.
"Wir hatten gute, tolle Kombinationen, gut über die Außenpositionen Kimmich und Gosens. Das war eigentlich unser Plan und das ist gut aufgegangen", sagte Bundestrainer Joachim Löw nach der Partie. ARD-Experte Bastian Schweinsteiger sah das ähnlich: "Gerade über die Außen waren wir sehr stark. Sehr viele Flanken geschlagen und die Portugiesen so unter Druck gesetzt und die Eigentore erzwungen." Portugal schreibt mit den beiden Eigentoren Geschichte: Erstmals in bei einer Europameisterschaft unterliefen einem Team in einem Spiel zwei davon.
Der Bundestrainer dürfte sich in seiner personellen und taktischen Einstellung bestätigt fühlen. Es war eine andere deutsche Mannschaft auf dem Platz – ohne personelle Veränderungen.
Daher dürfte er auch dem gleichen Team beim letzten Gruppenspiel am Mittwoch gegen Ungarn vertrauen. Gewinnt die Mannschaft um Kapitän Manuel Neuer und Frankreich gewinnt nicht, ist die DFB-Elf sogar Gruppenerster. Und vielleicht ist das ja Motivation genug, dass es mit einem Tor nach einem ruhenden Ball klappt.