Tottenham Hotspur und Ajax Amsterdam haben einiges gemeinsam. Beide Clubs sind dafür bekannt, dass sie seit Jahren sehr ansehnlich und erfolgreich Fußball spielen, ohne dass sie dafür exorbitant teure Spieler einkaufen. Die Spurs leben von ihrer Eingespieltheit und der klaren Idee ihres Trainers Mauricio Pochettino; Amsterdam profitiert vor allem von seiner Talentschmiede, die am laufenden Band Fußballwunderkinder mit Ajax-DNA hervorbringt.
Beide Teams spielen in ihren Ligen kurz vor Saisonende oben mit. Tottenham ist Dritter der Premier League, Ajax Spitzenreiter der Eredivisie. Auch in der Königsklasse läuft's: Die Londoner knipsten Borussia Dortmund und Manchester City aus. Ajax überwand mit Real Madrid und Juventus Turin zwei echte Brocken.
Nun treffen Ajax und die Spurs am Dienstag (21 Uhr/DAZN) im Halbfinalhinspiel der Champions League aufeinander. Und man könnte fast sagen, dass es ein jüdisches Halbfinale wird. Denn die Anhängerschaften beider Vereine pflegen eine jüdische Identität, die sich sich zugelegt haben: Die Fans von Tottenham nennen sich "Yid Army", Ajax' Anhänger sagen über sich, dass sie die "Super Jews" sind. In den Kurven beider Clubs kann man regelmäßig Davidsterne und Israel-Flaggen entdecken.
Obwohl weder Ajax Amsterdam, noch Tottenham Hotspur Clubs jüdischen Ursprungs sind, obwohl keines der beiden Fanlager einen besonders hohen Anteil jüdischer Anhänger hat. Was hat es dann mit der Symbolik und den Fankulturen, die sich mit dem Judentum identifizieren, auf sich?
Beide Fanlager haben sich die jüdische Identität als Reaktion auf antisemitische Gesänge und Beleidigungen gegnerischer Fans aufgebaut. Im Falle von Ajax ist es so, dass der Verein seit jeher von anderen Clubs als jüdisch angesehen wird, also ein jüdisches Fremdbild hat.
Vor dem Zweiten Weltkrieg lag die Heimspielstätte des Clubs, das Stadion De Meer, nicht weit von einem jüdischen Stadtviertel entfernt, so dass viele Zuschauer, die zu Ajax gingen, Juden waren. Auch viele prägende Persönlichkeiten von Ajax Amsterdam waren Juden, zum Beispiel Uri Coronel, ehemaliges Vorstandsmitglied und Ex-Präsident. Ajax-Legende Johan Cruyff engagierte sich für Israel und hatte einen Onkel, der Jude war.
Und so müssen sich Amsterdams Fans seit den Siebzigern antisemitische Sprechchöre gefallen lassen. Um sich dagegen zu wehren, drehte die Hooligan-Gruppe "F-Side", die heute noch aktiv ist, den Antisemitismus-Spieß sozusagen um und griff das jüdische Image philosemitisch und demonstrativ auf. (spiegel.de)
Es gibt Kritiker, die sagen, dass dies in der Folge noch heftigere judenfeindliche Reaktionen hervorgerufen hätte. Erst seitdem die "F-Side" mit dem jüdischen Image kokettiert, kommt es daher vor, dass gegnerische Fans "Hamas, Hamas, Juden ins Gas!" oder "Wir gehen auf Judenjagd" singen.
Wie die "New York Times" im Jahr 2005 berichtete, rief das Management von Ajax sogar seinerzeit dazu auf, das demonstrative Zeigen jüdischer Symbole doch bitte zu lassen, um das übertriebene jüdische Image und die häufigen antisemitischen Rufe zu minimieren. (nytimes.com)
Was Tottenhams jüdische "Fake-Identität" angeht, ist es ganz ähnlich. Auch die Spurs haben seit langem das Fremdbild eines jüdischen Clubs. Denn viele Menschen verbinden den Nord-Londoner Verein mit der jüdischen Community in der englischen Hauptstadt, weil viele jüdische Immigranten, die um die Jahrhundertwende nach London zogen, zu den Spurs hielten.
Die Folge: Fans rivalisierender Clubs begannen damit, die Tottenham-Anhänger antisemitisch als "Yid Army" zu beleidigen. "Yid" ist ein antisemitisches Schimpfwort für Juden. Also begannen auch die Tottenham-Fans wie die Amsterdamer "F-Side"-Hooligans sich ein jüdisches Image anzueignen, um den "Yid Army"-Rufern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mittlerweile nennen sie sich selbst "Yid Army" und pflegen das jüdische Image. Im Englischwörterbuch findet man "Yid" nicht nur als "Schimpfwort für einen Juden", sondern auch als "Spitzname und Selbstbezeichnung eines Anhängers der Tottenham Hotspur".
Wie auch im Fall von Ajax Amsterdam gibt es Kritik an der Aneignung des jüdischen Fremdbildes. Die Selbstbezeichnung "Yids" von Fans, die eigentlich gar keine Juden sind, könne verfeindete Fans dazu animieren, diesen Begriff verstärkt und vermeintlich legitim als Schimpfwort zu nutzen, wie es ja auch in den Niederlanden der Fall war und ist.
Des Weiteren seien englische Juden über die Pseudo-Identität der Spurs nicht immer erfreut, da das "Y-Wort" verpönt sei, wie Michael Brenner, Professor für Jüdische Geschichte und Kultur an der Ludwig-Maximilians-Universität München, in der "Süddeutschen Zeitung" erklärt: So hätten jüdische Organisationen Fans sogar gebeten, sich nicht mehr 'Yid Army' zu nennen. (sueddeutsche.de)
Nun treffen sich die beiden Clubs, deren Fans sich aus Trotz eine jüdische Identität gestrickt haben, also im Halbfinale der Champions League aufeinander. Wie das Spiel ausgeht? Ungewiss. Nur eins ist so gut wie sicher: Es wird bestimmt keine antisemitischen Rufe geben.
(as)