Er strahlt breit über das ganze Gesicht und hat funkelnde Augen, als der Video-Call beginnt. Illya Shevtsov sah bei den vorangegangenen Interviews lange nicht so glücklich aus, wie er es jetzt, Anfang Februar tut. Der Grund ist eigentlich simpel, aber gerade in Kriegszeiten doch besonders: Er ist gerade zu Besuch bei seiner Mutter, lässt sich von ihr bekochen und genießt die Zeit.
Lange Zeit war das für Shevtsov nicht vorstellbar. Der Krieg machte ein Wiedersehen mit seiner Mutter unmöglich. Sie lebte in Cherson und bekam die Besetzung der Stadt durch die russische Armee mit. Shevtsov selbst war zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs mit seinem damaligen Verein, Desna Chernihiv, im Trainingslager in der Türkei.
Er kehrte nicht wieder in die Ukraine zurück, schloss sich für knapp ein halbes Jahr Charlotte Independence in den USA an.
In diese Zeit fällt auch der Entschluss der Mutter, die Heimatstadt Cherson zu verlassen und nach Breslau zu fliehen. Im Spätsommer, also August oder September, muss das gewesen sein, meint Shevtsov. "Aus Cherson zu fliehen war sehr lange extrem gefährlich", erklärt er. Die Stadt, in der noch immer viele Familienmitglieder leben, war von Kriegsbeginn durch die russische Armee besetzt.
In dieser Zeit hätten einige Bekannte enorme Angst gehabt. "Auf dem Weg zum Supermarkt sind sie vielen russischen Soldaten begegnet. Gerade vor ihnen hatten sie Angst, weil Soldaten ganz willkürlich handeln konnten", erklärt Shevtsov gegenüber watson. Trotzdem sei eine Flucht aufgrund der russischen Soldaten in der Stadt und den Kämpfen im Umland schwierig gewesen.
Im November befreite die ukrainische Armee Cherson. Eine Flucht nach Polen war für Shevtsovs Mutter aber schon vorher möglich gewesen: "Als sich die russische Armee ein wenig zurückzog und sich Möglichkeiten ergaben, hat sie sich dazu durchgerungen, Cherson zu verlassen." Davor habe sie so lange gehadert. Sie wollte ihr Zuhause nicht aufgeben.
"Sie wollte ihre Erinnerungen nicht zurücklassen. Es war sehr hart, sie davon zu überzeugen, dass sie fliehen soll", erklärt Shevtsov. Während der vier- bis fünftägigen Flucht seiner Mutter spielte und trainierte er tausende Kilometer entfernt in den USA. "Ich konnte in der Zeit nicht schlafen. Ich habe ihr immer wieder geschrieben und gefragt, was passiert. Sie musste an vielen Checkpoints und Soldaten vorbei. Im Krieg ist das heftig, weil du nie weißt, wie sie drauf sind."
Rückblickend betrachtet bezeichnet Shevtsov diese Zeit, in der er nicht wusste, wie es seiner Mutter geht, als "Horror". "Nachdem sie in Sicherheit war, war ich erleichtert. Ich konnte wieder in Ruhe schlafen, mit Freunden ausgehen. Das Leben hat sich wieder normal angefühlt", offenbart der 22-Jährige.
In Breslau gefällt es seiner Mutter. Sie hat sich schnell eingelebt. "Nach einer Woche rief sie mich an und hat von ihrer neuen Wohnung und möglicher Arbeit erzählt. Das hat mich sehr glücklich gemacht."
Seit November ist er selbst auch in Breslau und genießt die gemeinsame Zeit. Sein Vertrag in Charlotte lief zum Ende des vergangenen Jahres aus – er ist nun vertragsloser Profi. Jetzt hat er Zeit für seine Mutter. Shevtsov betont aber, so schnell wie möglich wieder einen Verein finden zu wollen: "Aktuell spreche ich viel mit meinem Berater. Wir diskutieren, in welche Liga und welches Land ich gehen werde."
Er selbst bevorzugt einen längeren Vertrag. Zuletzt waren es Kontrakte über sechs Monate. Er möchte aber länger bei einem Klub sein, um nachhaltig zu zeigen, was er drauf hat. Einen Wechsel zurück in die Ukraine schließt er vorerst aus. Er erklärt, dass er zwar Angebote aus der Heimat gehabt habe, "aber aktuell möchte ich das eher nicht". Zu groß seien die Bedenken wegen des Kriegs. Außerdem möchte er die Chance nutzen und durch den Fußball andere Länder kennenlernen.
"Schon vor dem Krieg wollte ich die Ukraine verlassen, um mich fußballerisch in Europa weiterzuentwickeln", erklärt Shevtsov.
Ein Grund, sich keinem ukrainischen Verein anschließen zu wollen, ist sicherlich auch die schlechten Bedingungen vor Ort. Trotz Kriegshandlungen spielt die Premjer-Liha, die höchste Klasse im ukrainischen Fußball – allerdings unter besonderen Auflagen. Im Stadion sind keine Zuschauer erlaubt, außerdem wird das Spiel unterbrochen, wenn die Luftschutzsirenen erklingen. Dann suchen beide Teams in einem Bunker Schutz, erst nach dem Beschuss wird weitergespielt.
Shevtsov sieht darin viele Probleme: "Allein körperlich muss man sich danach wieder erwärmen. Von der Psyche ganz zu schweigen." Solche Spielunterbrechungen gebe es immer wieder. Zu Beginn der Saison im August dauerte ein Spiel zwischen Rukh Lviv und Metalist Charkiw rund viereinhalb Stunden. Nach insgesamt drei Unterbrechungen und Bunker-Aufenthalten von fast 150 Minuten endete die Partie 2:1 für Charkiw.
Weil Shevtsov in der Ukraine für mehrere Teams spielte, hat er noch Kontakt zu einigen Profis. Aus Gesprächen mit ihnen habe er erfahren, dass sie sich mittlerweile an die Unterbrechungen im Bunker gewöhnt hätten.
Aber auch bei der Planung des Liga-Alltags kommt es zu starken Einschränkungen. Viele Vereine haben ihren Spielort aufgrund des Kriegs gewechselt, sind aus der Ost-Ukraine nach Kiew oder in den Westen gezogen. Charkiw, Poltawa und Dnipro teilen sich zu dritt das Awanhard-Stadion in Uschhorod, eine Grenzstadt zur Slowakei.
Zur Änderung der Stadien kommt noch das Problem der Infrastruktur dazu. Aufgrund des Kriegs gibt es keine Linienflüge. Bei den großen Distanzen in der Ukraine ein echtes Problem. Shevtsov erzählt von seinen ehemaligen Mitspielern: "Die Mannschaften können nicht fliegen, daher müssen sie die Strecken mit dem Bus fahren. Weil es aber ab 22 Uhr eine Ausgangssperre gibt, können sie nicht über Nacht fahren. Oft gehen deshalb zwei Tage für eine Anreise drauf."
Das abgelaufene Transferfenster habe in der Ukraine gezeigt, dass selbst Spielerwechsel während des Kriegs eine neue Tragweite entwickeln. Mykhaylo Mudryk verließ Serienmeister Shakhtar Donezk, ging zum FC Chelsea nach England. Ilya Zabarnyi wechselte von Dynamo Kiew ebenfalls auf die Insel, spielt nun für Bournemouth. Viktor Tsygankov verließ Kiew und unterschrieb bei Girona in Spanien. Soweit so gut. Wäre da nicht eine Besonderheit im Krieg.
Eigentlich ist es Männern nicht gestattet, die Ukraine zu verlassen. Shevtsov erzählt: "Viele Menschen haben hinterfragt, weshalb Fußballer das Land verlassen dürfen, normale Menschen aber nicht." Eine Erklärung hat Shevtsov nicht. Er glaubt aber, dass "viele Menschen mental erschöpft sind vom Krieg und daher solche Gedanken kommen".
Andererseits würden sich viele Sportfans freuen, "dass immer mehr ukrainische Spieler in Top-Ligen spielen". Shevtsov will einer davon sein und kann dieses Ziel nun mit dem Wissen angehen, dass seine Mutter in Sicherheit ist.