Am Dienstag hat die ukrainische Fußball-Saison begonnen. Rund sechs Monate nach Kriegsbeginn rollt in dem Land, das von Russland angegriffen wird, wieder der Ball. Schachtjor Donezk spielte zur Eröffnung gegen Metalist Charkow 0:0. Der Start der neuen Saison soll ausdrücklich dem Wunsch von Präsident Wolodymyr Selenskij und seiner Regierung entsprechen. Die Umstände, unter denen wieder gespielt wird, scheinen wegen des Kriegs allerdings befremdlich.
Die Spiele finden ohne Zuschauer und ausschließlich in Kiew oder im Umland statt sowie in zwei Stadien im Westen der Ukraine. Dazu müssen alle Spielstätten Luftschutzkeller aufweisen oder in der Nähe haben. Kommt es zu einem Alarm, wird das Spiel sofort unterbrochen. Wenn der Alarm länger als 60 Minuten andauert, darf die Partie verlegt werden. Zuschauer sind nicht erlaubt, es wäre zu gefährlich.
Andrij Pawelko ist der Präsident des ukrainischen Fußball-Verbands. Schon vor dem Saisonstart erklärte er: "Es wird ein einzigartiger Wettbewerb. Er findet mitten im Krieg, während militärischer Aggression und Bombardements statt."
Während in der Ukraine der Ball wieder rollt, schaut der ukrainische Fußball-Profi Ilya Shevtsov aus den USA skeptisch auf den Wiederbeginn der Liga in seinem Heimatland: "Ich kann mir nicht vorstellen, wie ein Ligabetrieb in Kriegszeit funktionieren und in der Praxis umgesetzt werden soll."
Gleichzeitig sieht er die Probleme besonders in der unsicheren Lage: "Wenn es einen Luftangriff gibt, soll die Partie unterbrochen oder abgebrochen werden, was auch vernünftig ist. Aber wie sollen dann die Spiele gewertet werden? Wann soll das Spiel fortgesetzt werden? Das sind viele Unsicherheiten, die ich sehe."
Shevtsov selbst war zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs noch Profi in der Ukraine beim Erstligisten Desna Chernihiv. Weil er mit der Mannschaft im Trainingslager war, war er nicht in der Ukraine und kam zunächst bei einem Freund in Zypern unter, wo er sich fit halten konnte. Mittlerweile hat er in den USA bei Charlotte Independence einen neuen Verein gefunden.
Grundsätzlich kann Shevtsov allerdings verstehen, dass die Profi-Fußballer, die in der Ukraine geblieben sind, wieder spielen wollen. Gegenüber watson erklärt er: "Jeder will seinen Job ausüben. Deshalb glaube ich, dass es legitim ist, dass auch die Fußballer in der Ukraine wieder spielen wollen." Der 22-Jährige ist der Überzeugung, dass der Fußball den Menschen im Kriegsalltag helfen könne. Dadurch könnten die Ukrainer:innen "vielleicht für 90 Minuten den Kopf" abschalten.
Ihm selbst gehe es in den USA ähnlich: "Im Training und während der 90 Minuten beim Spiel kann ich den Kopf voll abschalten und genieße es, eine kurze Zeit nicht über den Krieg nachzudenken. Den restlichen Tag ist das Thema immer in meinem Kopf." Besonders präsent ist der Krieg für ihn, weil seine Eltern noch immer im russisch besetzten Cherson leben.
Für seine Eltern sei völlig klar, dass sie mit der russischen Armee nicht kollaborieren und keine Hilfe annehmen wollen. Das habe sich auch nach einem halben Jahr Krieg nicht geändert. "Sie wollen weiter zur Ukraine gehören", klärt Shevtsov auf. Mittlerweile gibt es sogar wieder die Hoffnung, dass Cherson von den ukrainischen Streitkräften zurückerobert werden könnte.
Durch Shevtsovs Wechsel in die USA ist es nun allerdings schwerer für ihn, den Kontakt mit seinen Eltern zu halten. Als er sich noch auf Zypern fit hielt, telefonierte er täglich zweimal mit ihnen. Wegen der Zeitverschiebung hat sich das jetzt geändert: "Ich telefoniere jeden Morgen auf dem Weg ins Trainingszentrum mit meinen Eltern. Die Situation ist nicht optimal, aber ganz ehrlich: Das ist Jammern auf hohem Niveau. Mir geht es hier in den USA gut, meine Landsleute in der Heimat haben es viel schwerer."
Immer wieder sind es Sätze wie diese, die Shevtsov im Gespräch mit watson fallen lässt. Wenn nach seiner persönlichen Situation gefragt wird, erklärt er sie erst kurz und nimmt danach Bezug auf Freund:innen, Familie oder Landsleute in der Ukraine, die in einer weitaus schwierigeren Situation aktuell leben würden.
Dennoch gab es auch bei Shevtsov eine Phase, in der er völlige Ungewissheit hatte. Ende April war er bereits in den USA, war sich eigentlich mit Charlotte Independence über einen Wechsel einig. Den Vollzug gab es allerdings erst später: "Das Problem war das Arbeitsvisum. Ich musste mehr als einen Monat darauf warten. Das war sehr kompliziert, deshalb bin ich erst seit 1. Juni im Training dabei."
Nun könne er aber in den USA finanziell sorgenfrei leben. "Deshalb ist für mich persönlich die Situation hier gut. Gleichzeitig denke ich jede freie Minute an meine Familie, Freunde und die Situation in der Ukraine." Allerdings habe sich bei dem Wechsel aus Chernihiv nach Charlotte ein Fehler ausgerechnet bei der Online-Plattform "transfermarkt.de" eingeschlichen.
Dort ist hinterlegt, dass Shevtsov nur bis Ende des Jahres nach Charlotte ausgeliehen sei, danach wieder zurück nach Chernihiv müsse. Im Gespräch mit watson stellt er aber klar: "Ich gehöre fest zu Charlotte Independence. Warum das auf der Seite steht, weiß ich nicht."
Trotzdem sei es sein absoluter Traum, "wieder in der Ukraine zu spielen, aber wenn sich die Situation beruhigt hat". Dazu ergänzt er, dass er "auf jeden Fall noch einmal in der Donbass Arena in Donezk spielen" will. "Ich habe in der Schachtjor-Akademi gespielt und es war immer mein Kindheitstraum."
Aktuell sind beide Szenarien aber schwer vorstellbar. Ein Ende des Kriegs ist nicht in Sicht, dazu gehört Donezk zu einem Gebiet, das von Separatisten kontrolliert wird, die von Putin unterstützt werden. Bis Shevtsov wieder in seine Heimat zurückkehren wird, um in Sicherheit seinem Beruf nachzugehen, seinen Traum zu erfüllen und seine Eltern wieder sehen kann, wird es daher noch länger dauern.