Wir kennen es aus dem großen Kino: Aus einer Gemengelage an kleineren und größeren Wundern, unrealistischen Erwartungen und anderen spektakulären Zufälligkeiten lassen sich großartige Filme machen.
In diesem Sinne steigt am Samstag in Wolfsburg die Revanche gegen Japan (20.45 Uhr, RTL) für das verlorene Auftaktspiel bei der WM und dem später damit verbundenen Gruppen-Aus. Für den deutschen Fußball wird es allerhöchste Zeit, die Rangordnung wiederherzustellen und vor allem den heimischen Fans zu zeigen, dass die Deutsche Nationalmannschaft in absehbarer Zeit auch bei internationalen Turnieren wieder vorne dabei sein kann.
Auch wenn die Nationalmannschaft seit langem keine Ergebnisse liefert, so garantiert sie doch in diesen Tagen für prächtige Unterhaltung. Der Spannungsbogen ist gespannt, denn mit einer Niederlage gegen Japan und einem frustrierenden Auftritt gegen Frankreich am Dienstag wäre Bundestrainer Hansi Flick wohl seinen Job los. Und die Mannschaft wäre auch bei den wenigen, noch verbliebenen Fans vollends unten durch.
Spätestens seit Katar und den folgenden fünf Testspielen lagen die Image- und Identifikationswerte in der fußballinteressierten deutschen Öffentlichkeit im Keller. Vor wenigen Wochen gaben in einer repräsentativen Studie 87,8 Prozent der Befragten an, dass die Identifikation mit dem Team früher besser war und nur 2,8 Prozent der Befragten trauen dem DFB-Team das Erreichen des EM-Finales im kommenden Jahr im eigenen Land zu.
Diese dunkle Ausgangssituation bietet Stoff für ein wirklich unterhaltsames Drama. Durch ein überzeugendes Spiel gegen Japan und einen "Lucky Punch" gegen Frankreich wäre die Nationalmannschaft samt Trainerteam wieder im Spiel und zurück in der Gunst der Fans.
Ich möchte dem DFB raten, jetzt schnell noch ein Filmteam für die Dokumentation dieses aussichtslos erscheinenden Vorhabens zu engagieren. Im Falle des Falles wäre der bereits vorliegende Fundus an Fußball-Dokumentarfilmen zur WM 2006 (Sommermärchen) und 2014 (Die Mannschaft) um ein weiteres Heldenepos reicher. Vielleicht aber auch um eine weitere Tragödie bzw. Komödie. Ganz nach dem Vorbild der Amazon Prime Produktion "All or Nothing – die Nationalmannschaft in Katar".
Über die Veröffentlichung dieser Dokumentation am Freitag, einen Tag vor dem Japan-Spiel, rätselt inzwischen die gesamte Fußballwelt. Was soll das? Wer hat das geplant und aus welchem Grund dieses Timing gewählt? Unmittelbar vor den beiden wichtigsten Spielen des Jahres bekommen wir die Hintergründe des sportlichen, aber auch sportpolitischen Scheiterns des DFB und der Nationalmannschaft aus erster Hand serviert.
Zur WM hatte sich das DFB-Team in einem abgeschotteten Hotel, weit draußen in der Wüste versteckt. Und nun sind wir mit neun Monaten Verzögerung dabei, wenn Hansi Flick in der Mannschaftssitzung nach dem verlorenen ersten Gruppenspiel einen hilflos wirkenden Moralappell an das Team sendet: "Was war – scheißegal! Wir haben nur über Politik gesprochen. Jetzt geht es darum, diese WM anzunehmen. Okay? Wegen dem sind wir da. Das ist unser Job, euer Job. Ich erwarte von jedem Einzelnen, dass er am Ende der Krieger ist... Männer, uns traut keine Sau was zu in Deutschland!"
Wie recht die Fans zu Hause doch hatten. Niemand traute dieser Mannschaft etwas zu und der Veröffentlichungstermin dieser aktuellen Fußballdokumentation beim Streamingdienst, Amazon, liefert weitere Argumente für all diejenigen, die dem DFB misstrauen. Es entsteht der Eindruck, dass die Top-Funktionäre des Verbandes mit der Aufgabe, den deutschen Fußball zurück in die Weltspitze zu führen, maßlos überfordert sind.
Es war zweifelsohne ein Akt der Selbstüberschätzung, so eine Dokumentation überhaupt in Auftrag gegeben zu haben. Außerdem zeugt es von Hilflosigkeit, die jetzt anstehende Ausstrahlung unkommentiert laufen zu lassen. Kein Versuch einer Einordnung, Entschuldigung oder der Aufarbeitung der Geschehnisse rund um die WM durch den DFB selbst. Der Verband überlässt das Handeln den professionellen Filmemachern und steht nun auch in dieser Hinsicht blöd da.
Aber schaut euch die Dokumentation selbst an und staunt über die Szenen, in denen der hilflos wirkende Trainer Hansi Flick und sein überforderter Teammanager Oliver Bierhoff zu Wort kommen. Letzterer ist in einer Szene in der Mannschaftsansprache mit deutlichen Worten: "In mir brodelt es, da brodelt es richtig. Ich könnte kotzen! Was ich jetzt nicht sehen will, sind mitleidige Gesichter. Was ich auch nicht sehen will, ist, in Augen blicken, die den Ernst der Lage nicht verstanden haben."
Mit Blick auf die halbherzige Aufbereitung der Geschehnisse durch die DFB-Führung fragt man sich zu Recht: Was haben eigentlich die mitgereisten Top Funktionäre in Katar gemacht? Waren Präsident Bernd Neuendorf und die beiden Vize-Präsidenten Hans-Joachim Watzke und Ronny Zimmermann während der Vorrunde bei der Mannschaft dabei? Oder erfahren die auch erst jetzt – Dank der Hilfe von Amazon – in welchem Zustand sich die Nationalmannschaft während der Fußball-Weltmeisterschaft befunden hat?