Viele Fußballtrainer werden überschätzt. Manche werden überbewertet. Hansi Flick war mit einem Jahresgehalt von angeblich mehr als 6 Millionen Euro nicht nur der weltweit teuerste Nationaltrainer, sondern auch einer der überbezahltesten Männer der Branche. Das ist okay und sei ihm gegönnt, denn das System gibt sowas her.
Der 2:1-Sieg der deutschen Mannschaft gegen Frankreich am Dienstagabend hat zwar nicht meine, aber die Erwartung der meisten Fußballexperten rigoros durchkreuzt. Wie ist es zu erklären, dass die Deutsche Nationalmannschaft nur wenige Tage nach dem blamablen 1:4 gegen Japan den Vizeweltmeister aus Frankreich mit einem wohlverdienten Sieg nachhause schickt?
Im Nachhinein sind alle klug und können wohlbegründet vermuten, dass es an Rudi Völler und den genialen Coachingleistungen seiner Assistenten Hannes Wolf und Sandro Wagner gelegen hatte. Völler gibt den Nationalspielern in seiner für den Fußball so untypisch wirkenden Zurückhaltung und Bescheidenheit Vertrauen. Mit Sandro Wagner sitzt ein weiterer, so dringend benötigter, Mittelstürmer auf der Bank. Wenn Hannes Wolf dem Team die taktische Marschroute ähnlich prägnant nahebringen kann, wie er dem DFB-Vize Hans Joachim Watzke in zwei Sätzen den Kinderfußball erklärt, dann ist alles zum Anforderungsprofil für den künftigen Bundestrainer gesagt.
Erfahrung, Vertrauen, Bescheidenheit sowie die Fähigkeit, Wissen und Können ganz prägnant auf den Punkt zu bringen, waren die Basis des erfolgreichen Trainerhandelns am Dienstagabend. Da keine Zeit vorhanden war, die Spieler auf die Visionen, Ideen, das Wissen und Können der neuen Trainer einzustellen und entsprechend komplexe Matchpläne zu entwerfen, kam ein weiteres entscheidendes Moment hinzu: Die Trainer konnten nicht viel machen, dirigieren, erwarten und beeinflussen.
Aber die Situation hat maßgeblich dazu beigetragen, die Spieler in Verantwortung zu nehmen. Anders als in den vielen Länderspielen zuvor gab es keine Graugans-Psychotricks, komplizierten Matchpläne, Absprachen zu Laufwegen, Spielphilosophien, Daten aus dem Scouting und der Spielanalyse. Es gab nur elf Männer, einen Gegner, einen Ball und ein Spielfeld mit der Aufgabe, ein Fußballspiel zu gewinnen.
Genau deshalb hatte ich mich wahnsinnig auf dieses Spiel gefreut. Wohl wissend, dass das eine einmalige Gelegenheit werden wird, Deutschlands beste Fußballer so zu sehen, wie sie ohne die aufgetakelte Kompliziertheit modernen Fußball-Coachings ein Spiel gegen einen ernstzunehmenden Gegner spielen. Ich bin mir sicher, etwas Vergleichbares wird es auf Jahre hinaus nie wieder geben.
Muss es auch nicht, denn wir können aus dieser Erfahrung und diesem Experiment von Rudi Völler, Hannes Wolf, Sandro Wagner und den Nationalspielern lernen. Und das entscheidende Kriterium für die Formulierung des Anforderungsprofils des künftigen Nationaltrainers mitnehmen: Er oder sie muss in der Lage sein, jeden Spieler in die maximale Verantwortung zu bringen.
Das ist eine urtypisch pädagogische Aufgabe, die am Ende jeden Bildungsprozesses Realität werden muss. Wenn wir es mit erwachsenen, mündigen Persönlichkeiten zu tun haben, können sich Trainer in ihrer Rolle als Dirigent zurücknehmen. Während Laptop, Analysedaten, Eitelkeit und Selbstdarstellung im Hintergrund bleiben, können sich die Spieler – die ja fast alle erwachsen sind und auf Weltklasseniveau Fußball spielen können – auf die Aufgabe konzentrieren. Sie können im Spiel jede Situation situativ-variabel verstehen und jedes Problem blitzschnell lösen.
Seit Sonntagnachmittag kursieren mindestens ein Dutzend Namen von Trainern in den Medien, die die EM und Fußballzukunft für Deutschland retten sollen. Lothar Matthäus, Ralf Ragnick und Jürgen Klopp haben bereits abgesagt. Matthias Sammer will glücklicherweise nur irgendwie aus der zweiten Reihe heraus helfen. Felix Magath bringt sich selbst und Louis van Gaal wird unter anderem von Philipp Lahm ins Spiel gebracht. Stefan Kunz verliert erneut mit der Türkei und wäre wohl leicht zu verpflichten. Ebenso wie der junge und ehrgeizige Julian Nagelsmann, der seit dem Rauswurf bei den Bayern ohne Job ist und auf die beste Möglichkeit zur Selbstinszenierung und Profilierung wartet.
Da der DFB-Präsident Bernd Neuendorf als Verantwortlicher für die Trainerfrage noch vor Spielbeginn am Dienstagabend keine Idee zu einem möglichen Anforderungsprofil hatte, mag ich ihm den Kern des Ganzen vorschlagen: Der neue Bundestrainer muss in mehrerlei Hinsicht so sein wie Rudi Völler: Bescheiden und zurückhaltend.
Jemand, der es nicht nötig hat, der Welt zu zeigen, wie genial er in Sachen Leadership, Fußballverstehen, Spielanalyse und taktischer Weitsicht ist. Jemand, der niemandem mehr etwas zeigen oder beweisen muss. Jemand, der vor allem durch seine Erfahrung, Reife und Persönlichkeit wirken kann.
Nicht auf uns Zuschauer, nicht auf die Medien oder die DFB-Oberen. Sondern einzig und allein auf die Nationalspieler und alle anderen, die demnächst Nationalspieler werden wollen. Und zwar dahingehend, dass er jeden Spieler in maximale Verantwortung für das Gewinnen von Fußballspielen bringt. Genauso, wie es die Situation der zurückliegenden Tage mit unserer Nationalmannschaft gemacht hat. Wem traut ihr sowas zu? Traut ihr dem Fußball zu, schon bereit für so ein Anforderungsprofil zu sein? Ich lege mich fest: Seit Dienstagabend wissen wir, dass wir die erwachsenen und starken Spieler für so ein Projekt haben.