Schluss, aus, vorbei. Als Anthony Taylor am Freitagabend mit drei lautstarken Pfiffen das Viertelfinale in Stuttgart beendete, war das Ausscheiden des DFB-Teams bei der EM 2024 besiegelt – wenn auch unverdient. Durch einen Treffer in der 119. Minute setzte sich Spanien mit 2:1 gegen den Gastgeber durch.
Der Traum vom Titel im eigenen Land ist also mal wieder geplatzt – wie schon bei der WM 2006, wie auch bei der EM 1988. Das neuerliche Aus stellt nun zugleich das Ende einer Ära dar, war es doch das letzte Profispiel von Toni Kroos. Für Manuel Neuer und Thomas Müller könnte es zudem der letzte Abend im DFB-Trikot gewesen sein.
Es ist also nicht falsch, nach dieser Enttäuschung zu trauern. Es ist nicht falsch, wehmütig auf die Erfolge vergangener Tage zurückzublicken, die eng mit den Namen Kroos, Neuer sowie Müller verknüpft sind.
Und doch gibt es keinen Grund, lange zu trauern, sich grundlegende Sorgen um den deutschen Fußball zu machen. Denn vor und während der EM 2024 hat das DFB-Team das Fundament für eine mindestens solide Zukunft gelegt. Deutschland ist zwar nicht "auf Jahre unschlagbar", wie es Franz Beckenbauer einst verkündet hatte, sehr wohl aber auf Jahre wettbewerbsfähig.
In den vergangenen Jahren war davon nur selten etwas zu sehen. 2018 und 2022 schied Deutschland jeweils blamabel in der WM-Gruppenphase aus, 2021 war im EM-Achtelfinale Endstation. Dem Team fehlte es dabei an vielem: an Durchschlagskraft, Gier, Leidenschaft, Widerstandsfähigkeit und Stabilität.
Gerade einmal drei Siege fuhr das DFB-Team in Summe bei jenen drei großen Turnieren ein, kaum ein Auftritt überzeugte. Bei der EM 2024 war dies gänzlich anders, diesmal sprangen allein bei einem Turnier drei Siege heraus.
Es waren keine Zufallsprodukte: Gegen Schottland gelang Deutschland trotz des Drucks eines Eröffnungsspiels ein Kantersieg, gegen Ungarn und Dänemark überstand man knifflige Phasen und siegte am Ende verdient.
Gegen die Schweiz erholte sich Julian Nagelsmanns Team zudem von einem Gegentor, das aus dem Nichts gefallen ist. In der Vergangenheit noch hätte dies die Mannschaft komplett verunsichert, gegen die Nati aber verdiente sich die DFB-Elf den Ausgleich, weil sie stabil blieb.
Der Bundestrainer hat es geschafft, ihr binnen kürzester Zeit wieder Struktur, Ruhe am Ball sowie Vertrauen in die eigenen Stärken zu schenken. Kroos war dabei zweifelsohne ein entscheidender Faktor, ihn gilt es zu ersetzen. Hoffnungsvolle Youngster wie Aleksandar Pavlović oder Angelo Stiller können perspektivisch zumindest das spielerische Erbe übernehmen.
Drumherum haben sich der leidenschaftlich verteidigende Antonio Rüdiger, der umsichtige Jonathan Tah, der sich in den Dienst der Mannschaft stellende Joshua Kimmich und der fleißige Robert Andrich für Leaderrollen beworben. Jamal Musiala, Florian Wirtz und Kai Havertz sollen diese rein sportlich in den kommenden Jahren ohnehin weiterhin ausfüllen.
In Summe steht Nagelsmann damit eine zentrale Achse zur Verfügung, auf die er in den kommenden Jahren setzen kann.
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Sie dürften in Zukunft seltener um İlkay Gündoğan oder Niclas Füllkrug ergänzt werden, hinter den Routiniers bringen sich aber bereits weitere aufregende Talente in Position.
Brajan Gruda dribbelte sich ins Herz von Thomas Müller sowie ins vorläufige Aufgebot, Maximilian Beier durfte mit der Empfehlung von 16 Saisontoren sogar schon zur EM reisen. Und im noch immer erst 19-jährigen Youssoufa Moukoko schlummert ein weiteres Toptalent.
Sie lassen für die Zukunft ebenso hoffen wie der Bundestrainer selbst. Wenngleich Nagelsmann während seiner Zeit beim FC Bayern durchaus auch Fehler begangen hat, so gilt er doch weiterhin als einer der Besten seines Fachs.
Als einer, der mit der Zeit geht, ihr manchmal sogar voraus ist. Als einer, der innovative Lösungen für den sich stetig im Wandel befindlichen Sport findet. Als einer, der für den gemeinschaftlichen Erfolg nicht vor unpopulären Maßnahmen zurückschreckt.
In seiner mittlerweile knapp neunmonatigen Amtszeit als Nationaltrainer konnte Nagelsmann all dies bestätigen, wies zudem eine gewisse Anpassungsfähigkeit nach.
Wagte er anfangs noch einzelne Experimente, schlug er mit dem Jahreswechsel einen pragmatischeren Weg ein. Dieser versprach aufgrund des Zeitmangels mehr Erfolg, die Ergebnisse geben ihm recht.
Schon vor der Heim-EM hat der Bundestrainer bis zur WM 2026 verlängert. Dem DFB erspart dies in den kommenden Wochen die anstrengende Suche nach einem neuen Coach. Stattdessen kann der volle Fokus auf dem Sportlichen liegen. Um die seit Jahresbeginn etablierten Strukturen weiter zu festigen. Um auf das gelegte Fundament weiter aufzubauen.
Die Beschreibung, dass man beim Team das Gefühl hat, sie seien auf Klassenfahrt, hörte man in den vergangenen Wochen häufig. "Die Mannschaft" ist es schon lange nicht mehr, sie ist viel mehr als das.
Der DFB und die Spieler haben es geschafft, dass sie wieder nahbar wirken. Ehrliche Interviews und kein typischer Fußballer-Sprech von Niclas Füllkrug, Joshua Kimmich, der mitten in der Nacht angezogen in den Pool springt, Teile der Mannschaft, die einen Ball mit mehreren Kunstpässen in einen Rettungsring im Pool versenken oder Deniz Undav, der um keinen fiesen Spruch verlegen ist, sind da nur die offensichtlichsten Beispiele.
Und dann hat sich mit Joshua Kimmich und David Raum ein neues Duo gefunden, das vom Unterhaltungsfaktor an die Zeiten von Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski heranreicht. Die beiden verstehen sich sogar so gut, dass Kimmich auf einer Pressekonferenz unter dem Gelächter der Anwesenden erzählt, dass sie kommenden Sommer heiraten werden.
Es gab Zeiten, da hätte das Interesse bei den Fans für die Nationalmannschaft gar nicht geringer sein können – und diese Zeiten sind gerade einmal sechs Monate her. Mittlerweile hat sich das gewandelt. Die Kampagne der Kader-Bekanntgabe, der Umgang und die Veröffentlichung des pinken Trikots und natürlich die sportlichen Leistungen haben dazu geführt, dass die Nationalmannschaft nicht mehr nur lästiges Beiwerk während der Bundesliga-Saison oder der Sommerpause ist.
Klar, die etwas sperrige Bezeichnung der "AG Stimmung" und ihre Auswirkungen, für wirklich gute Stimmung über 90 Minuten zu sorgen, holpert hier und da noch ein bisschen. Aber es entwickelt sich etwas, das so auch nicht für möglich gehalten wurde.
"Wenn wir die Menschen begeistern, kann es auch eine gute EM werden, wenn wir irgendwann in der K.o.-Phase ausscheiden. Idealerweise sorgen wir für viel Entertainment und schießen immer ein, zwei Tore mehr als der Gegner", sagte Julian Nagelsmann vor dem Turnier und er hat Wort gehalten.