Ich kam als neutraler Zuschauer, ich ging mindestens als Sympathisant. Das Stadion, die Menschen, die Stimmung, die Atmosphäre – purer Wahnsinn! Man kann eigentlich gar nicht anders, als den FC Liverpool zu lieben. Vor allem nicht nach diesem Spiel, nach einer magischen Nacht wie dieser. Und eigentlich kann man diesen Abend in Anfield mit Worten kaum beschreiben.
Es schien hoffnungslos. Aber die "Reds" haben es geschafft. Am Dienstagabend haben sie das Halbfinalrückspiel der Champions League gegen den FC Barcelona mit 4:0 gewonnen. Nach der 0:3-Niederlage im Hinspiel legte die Elf von Trainer Jürgen Klopp eine unfassbare Leistung hin, zog damit ins Finale der Königsklasse ein – und ich durfte dabei sein. Ein unvergleichliches Stadion-Erlebnis. Es klingt kitschig, aber das war ein Fußballspiel, von dem ich noch meinen Kindern in spe erzählen werde.
Das Stadion an der Anfield Road liegt mitten in einem Wohngebiet. Es wirkt ein bisschen wie ein riesiges Raumschiff, das zwischen kleinen, rot geklinkerten Häusern gelandet ist. Die Fans, die an diesem Abend zwischen zahllosen Pubs und Fish-and-Chips-Buden zum Stadion pilgern, scheinen nach dem 0:3 im Hinspiel nicht viel zu erwarten. Dennoch wirken sie trotzig. Denn in 90 Minuten kann viel passieren. "Die Leute gehen zum Fußball, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht", das wusste schon Sepp Herberger.
Ich betrete das Stadion. Jetzt gleich zählen für die Liverpool-Fans nur noch die kommenden 90, vielleicht 120 Minuten. Die legendäre Vereinshymne "You'll never walk alone" dröhnt vor Anpfiff durch die Ränge, meine Ohren klingeln. Bisher habe ich das nur im Fernsehen gehört und gesehen. Meine Nackenhaare stellen sich auf.
Anpfiff. Von der ersten Minute an supporten die Fans ihren Club bedingungslos. "Liiiiiiiverpooooool! Liiiiiiiverpooooool!" Immer wieder breiten sich Fangesänge wie ein Lauffeuer aus. Die Fans brauchen hier keinen Vorsänger, die Stimmung geht mit dem Spiel. Alle stehen, nur auf der Haupttribüne nutzen die Zuschauer brav ihre Sitzschalen. Nach dem frühen Treffer von Divock Origi zum 1:0 spürt man: Hier ist heute ein Wunder möglich.
Die beiden Tore von Georginio Wijnaldum kurz nach dem Anpfiff zur zweiten Halbzeit versetzen das Stadion in Ekstase.
79. Spielminute. Origi trifft zum 4:0. Wildfremde Menschen umarmen mich. Dann beginnt das große Zittern. Wenn Barcelona jetzt nur ein Tor schießt, dann platzt der Traum vom Finale.
Aber mit den Fans im Rücken schafft es Liverpool, das Ergebnis über die Zeit zu retten. Kurz vor Schluss singt das ganze Stadion nochmal "You'll never walk alone" und signalisiert den elf Spielern mit den roten Trikots: Ihr seid nicht alleine. Zusammen schaffen wir das.
Als der Abpfiff ertönt, rasten die Zuschauer komplett aus. Jetzt ist klar: Liverpool steht im Endspiel. Dennoch scheint noch niemand so richtig zu begreifen, was hier gerade passiert ist.
Vor mir beginnen Zuschauer zu facetimen, um Freunde und Verwandte, die nicht im Stadion sind, teilhaben zu lassen an diesem besonderen Moment. Kinder sitzen auf den Schultern ihrer Väter, halten rot-weiße Schals in die Luft. Ich staune. Weil ich begreife, was dieser Club den Menschen hier bedeutet. Weil ich begreife, dass ich gerade das erlebt habe, was man Fußballwunder nennt.
Die Ränge leeren sich, im Stadion läuft "Imagine" von John Lennon. So richtig realisieren werde ich das, was ich heute erlebt habe, wahrscheinlich erst, wenn ich dann meinen Kindern (in spe) davon erzähle.
Ich verlasse Anfield mit einem Grinsen im Gesicht.