In diesen Tagen ist es unpopulär, den Bundestrainer in Schutz zu nehmen. Die "Abwahlstimmung" unter den 80 Millionen ehrenamtlichen Bundestrainern ist angesichts der ausbleibenden Erfolge enorm. In unserer repräsentativen Studie vom 26. Juni waren es 69,1 Prozent. Ich mag diesem Reflex allerdings nicht folgen. Im Gegenteil: Eine mögliche Entlassung des Top-Trainers würde nicht mehr als eine kurzzeitige Ablenkung bedeuten. Die Probleme liegen ganz woanders.
Im letzten halben Jahr haben wir gelernt, dass die Wechselspiele beim Führungspersonal des DFB nichts gebracht haben und sich auch hinsichtlich des Stimmungsfaktors recht schnell verbraucht hatten. Das "Aus" von Oliver Bierhoff hat genauso wenig bewirkt wie die Einsetzung von Rudi Völler als Stimmungskanone und Sportdirektor. Und die Ü50/60-Taskforce um Präsident Bernd Neuendorf und Vize Hans-Joachim Watzke hat bislang auch noch keinen wahrnehmbaren Impuls setzen können. Abgesehen von der Nebenwirkung, dass dieser Schritt das Glaubwürdigkeitsproblem des DFB nicht nur in Sachen Diversität merklich vergrößert hat.
Da der Verband keinen Plan hat, wie er die Abwendung der Fans noch vor der Europameisterschaft im nächsten Sommer zurückdrehen könnte, setzten die Bosse des DFB alles auf eine Karte. Im Januar wurde versprochen, dass Leistung und Ergebnisse des A-Teams wieder stimmen werden. Dabei standen damals noch nicht einmal die Gegner der Nationalmannschaft fest.
Gleichzeitig wurde dem Bundestrainer zugesagt, dass er in den anstehenden Freundschaftsspielen mit freier Hand Personal und Taktik testen dürfe. Was folgte, war ein Spagat zwischen Experimentierfreude und Ergebnisdruck. Dass sowas auch in die Hose gehen kann, sollte niemanden verwundern.
Trotz allen Widrigkeiten liegt die Verantwortung beim Trainer und der hat denkbar schlechte Bedingungen. Sein Team wurde in den letzten Heimspielen von den eigenen Fans ausgepfiffen und die Analysten waren sich einig: Spieler und Trainer sind maximal gehemmt. Nach dem Kolumbien-Spiel brachte es İlkay Gündoğan auf den Punkt: "Man merkt die Verunsicherung in der Mannschaft."
In dieser Situation macht der Coach einen guten Job, wenn er Kritik und Druck auf sich zieht und die Mannschaft aus der Schusslinie nimmt. Dass sein Sportdirektor nur eine Woche später das Gegenteil tut und einigen Spielern die Qualität abspricht, ist sicherlich keine Hilfe, passt aber zum fehlenden Plan beim DFB. Fortan meldeten sich ehemalige Nationalspieler, Bundesliga-Funktionäre und andere Experten zu Wort und schlugen in die gleiche Kerbe. In den medialen Stilblüten wurde – ohne Argumentation – sogar das Vorhandensein eines Leistungsprinzips bei den Nominierungen des Bundestrainers in Abrede gestellt.
Vor diesem Hintergrund gefällt es mir, dass der eher zurückhaltende Hansi Flick am vergangenen Montag im Rahmen eines Interviews auf dem internationalen Trainerkongress in Bremen Klartext gesprochen und gegen die nachtretenden Experten ausgeteilt hat. Sichtlich angefressen fand er für die unsachliche Kritik am Leistungsprinzip harte und klare Worte: "Ich finde es schon eine große Dreistigkeit, ganz ehrlich, zu behaupten, dass die Nationalmannschaft nicht nach dem Leistungsprinzip die Spieler einlädt."
In den Folgetagen war die 51 Sekunden Passage dieses Interviews Grundlage zahlreicher Schlagzeilen, in denen Flick Dünnhäutigkeit und falscher Umgang mit Kritik vorgeworfen wurde. Kommunikationsexperten hätten ihm möglicherweise etwas anderes geraten. Aber ich wünsche mir mehr davon. Einen Bundestrainer, der auch mal aus der Haut fährt, sich empört und gegenüber den vielen Kritikern etwas riskiert.
Gleichzeitig aber seinen Plan durchzieht und dann, wenn es darauf ankommt, Spiele gewinnt. Das sollte am 9. September gegen Japan und drei Tage später gegen Frankreich der Fall sein. Danach werden wir nochmal die Trainerfrage stellen, denn dann ist die Zeit des Experimentierens vorbei.
Bis dahin wäre es gut, wenn der Bundestrainer die in den letzten Testspielen gewonnenen Einsichten mit uns teilt und dabei auch selbstkritisch mit (seinen) Fehlern umgeht. Wenn er ein großer Trainer ist, dann wird er mit dem nun aufgebauten Druck umgehen und ihn gegen große Gegner in Leistung umwandeln können.
Ich bin mit meiner Zuversicht nicht allein. In unserer repräsentativen Studie unter mehr als 6000 Fußballfans, die wir in den Tagen nach dem Kolumbien-Spiel durchgeführt hatten, landete Hansi Flick bei der Frage nach dem Wunschtrainer der deutschen Fußballfans für das Nationalteam mit 12,8 Prozent auf Platz zwei hinter Jürgen Klopp (47,7 Prozent). Er lag damit noch vor Julian Nagelsmann (11,7), Ralf Rangnick (4,2), José Mourinho (1,9) und Thomas Tuchel (1,2).