Borussia Dortmund steckt mitten in den Wochen der Wahrheit. Am Anfang stand ein 1:0-Sieg im Bundesliga-Topspiel gegen Borussia Mönchengladbach vor anderthalb Wochen, der Euphorie entfachte. Danach folgten zweimal Enttäuschung, Ratlosigkeit, Zweifel: Erst unter der Woche die 0:2-Pleite in Mailand gegen Inter, dann am Samstag ein 0:0 im Revierderby gegen den FC Schalke. Es war ein schmeichelhaftes Remis: Das Prestigeduell gegen den Lokalrivalen war ein rätselhafter und blutleerer Auftritt der Dortmunder. Kaum Torgefahr, keine Meisterreife.
BVB-Trainer Lucien Favre hätte sich nicht über eine Niederlage seines Teams beschweren dürfen. Nur mit viel (Aluminium-)Glück entgingen die Dortmunder einem weiteren Rückschlag. Der Punkt gegen Königsblau verschafft dem in die Kritik geratenen Favre zumindest etwas Zeit zum Durchatmen, – nimmt ihm aber nicht die Sorge um seinen Arbeitsplatz.
Der Schweizer steht öffentlich in der Kritik.
Favre hat bei Borussia Dortmund einen Punkteschnitt von 2,05 pro Spiel. So erfolgreich war er in seiner Trainerkarriere noch nie. Viele Fans und Experten sprechen ihm dennoch ab, der richtige Trainer für den BVB zu sein. Schon seit einiger Zeit macht sich Skepsis breit, dass der besonnene Monsieur Favre, der distanzierte Gentleman, von seinem Wesen her nicht zur mitreißenden Borussia passe.
"Ich habe kein Problem damit, ich kann damit leben", sagte Favre vor dem Spiel gegen Schalke über die Kritik an seiner Person und die entfachte Trainerdiskussion, in der schon der Name José Mourinho fiel. Er fügte aber auch hinzu: "Das heißt aber nicht, dass es okay für mich ist."
Aber wen will man in Dortmund an der Seitenlinie sehen?
Der ideale BVB-Trainer soll ein klares Profil haben, sein eigenes System mit attraktivem Offensiv-Fußball umsetzen, erfolgreich spielen, und am besten bringt er noch internationale Erfahrung mit. Mit Abstrichen trifft das alles eigentlich auf Favre zu, der als ausgewiesener Fußballfachmann gilt. Auch gegen Schalke zeigte die Statistik: Dortmund hatte mehr Ballbesitz, mehr gewonnene Zweikämpfe, eine höhere Passquote und auch die Laufleistung stimmte.
Neben dem Platz soll der ideale Dortmund-Trainer ein emotionaler Mitreißer sein. Der seriöse Favre ist das nicht. Den Trainer vom Typ "eierlegende Wollmilchsau", der all das vereint, gibt es allerdings nicht – zumindest nicht aktuell, weil die Trainer, die alle Bedürfnisse der Fans befriedigten, schon irgendwo anders unter Vertrag stehen, zum Beispiel ein gewisser Jürgen Klopp in Liverpool.
Gäbe es denn überhaupt eine Alternative zu Favre?
Nun ja, Typen wie Julian Nagelsmann (damals Hoffenheim, jetzt Leipzig), Florian Kohfeldt (Werder Bremen) oder Marco Rose (damals RB Salzburg, jetzt Gladbach) wären drei Trainer gewesen, die Expertise und Emotionalität vereinen, und vielleicht im Sommer für Dortmund verfügbar gewesen wären. Die sind aber jetzt erstmal vergeben.
Dann gibt es eine Reihe von arbeitslosen Trainern, die die Bundesliga beziehungsweise den deutschen Fußball kennen: Bruno Labbadia, Markus Weinzierl, Tayfun Korkut, Markus Anfang, André Breitenreiter, Markus Gisdol, Heiko Herrlich. Doch die haben alle wenig bis gar kein internationales Format – und bevor man einen dieser Namen auf die Dortmunder Trainerbank setzt, kann man auch Favre behalten.
Der bereits erwähnte José Mourinho, ein Startrainer und Champions-League-Sieger, lernt zwar eifrig Deutsch, wie man hört. Doch spricht für den Portugiesen eigentlich nur, dass es eine "Männerfreundschaft" zwischen ihm und BVB-Boss Hans-Joachim Watzke gibt, wie Manager Michael Zorc das Verhältnis der beiden nannte. Mourinho in Dortmund? Klingt irgendwie unrealistisch und dürfte finanziell nicht realisierbar sein. Das gilt auch für Trainer wie Laurent Blanc oder Massimiliano Allegri.
Nur wenige Trainer kämen wirklich in Frage als Alternative für Favre. Ein paar spannende Personalien haben wir uns mal näher angeschaut. – Auch wenn Michael Zorc sagt: "Wir führen keine Trainerdiskussion."
Mauricio Pochettino ist seit 2014 Trainer bei Tottenham Hotspur. Der Argentinier, 47, kann national und international etwas reißen, das hat er schon bewiesen: Er führte die Londoner in die Spitze der Premier League, in der vergangenen Saison sogar bis ins Finale der Champions League. Momentan rangiert er mit den Spurs allerdings nach zehn Spieltagen nur auf Platz elf. Pochettino steht deswegen in der Kritik, er könnte schneller verfügbar sein als ihm lieb ist. Allerdings soll auch in München der Name Pochettino kursieren, wie unter anderem die "tz" berichtet.
Ein weiterer Name, der in München kursiert, aber auch vor kurzem schon in Dortmund zu hören war: Ralf Rangnick. Zumindest brachten die BVB-Reporter von der "Bild" schon Anfang Oktober den Namen Rangnick als Favre-Nachfolger ins Spiel. Aktuell ist der Ex-Trainer von RB Leipzig als "Head of Sport and Development Soccer" bei der Red Bull GmbH tätig. Vom Sachverstand her machen dem 61-jährigen nur wenige etwas vor. Rangnick redete schon Viererketten und Raumdeckung, als der Großteil Fußballdeutschlands noch mit Libero und Manndeckern verteidigte. Andererseits käme er in Sachen Emotionalität an der Seitenlinie auch nicht an die BVB-Sehnsuchtsfigur Kloppo heran.
Ralph Hasenhüttl kann temporeichen Fußball spielen lassen, das bewies er in der Bundesliga als Trainer von RB Leipzig. Zuvor führte er den FC Ingolstadt in die Bundesliga. Der 52-Jährige wechselte in der vergangenen Saison zum FC Southampton in die Premier League. Dort dümpelt er mit den Saints am Tabellenende herum. Zuletzt musste er eine historische Demütigung seiner Mannschaft mit ansehen: Mit 0:9 (0:5) ging sein Team gegen Leicester City unter. Ein 0:9 ist vielleicht nicht das beste Bewerbungsschreiben für einen Job, aber vielleicht braucht Hasenhüttl auch einfach eine Luftveränderung. Sein expressives Verhalten in der Coachingzone würde den BVB-Fans gefallen.
Hannes Wolf wäre aktuell zu haben. Der 38-Jährige ist als gebürtiger Bochumer ein Kind des Ruhrgebiets. Er kennt Borussia Dortmund wie seine Westentasche, war dort zwischen 2009 und 2016 als Trainer der Reservemannschaft sowie der A- und B-Jugend tätig. Den VfB Stuttgart, seine erste Profistation, führte er zurück in die Bundesliga, nachdem er in die zweite Liga abgestiegen war. Vor seiner Zeit beim HSV (Oktober 2018 bis Juni 2019) hatte Wolf das Angebot, Co-Trainer von Lucien Favre beim BVB zu werden, doch nahm er es nicht an – weil er in Hamburg die Chance bekam, Cheftrainer zu sein. Wie es wohl gegenwärtig ausginge, falls Zorc oder Watzke ihn nochmal anriefen... Eine Chance hätte Wolf, der für Nachwuchsförderung und temporeiches Offensivspiel mit vielen Umschaltmomenten steht, beim BVB verdient. Entdecker des Trainertalents ist übrigens Jürgen Klopp...
Auch Daniel Farke hat Dortmunder Stallgeruch. Der 42-Jährige Sportlehrer wechselte 2015 vom SV Lippstadt, den er mit zwei aufeinanderfolgenden Meisterschaften in die Regionalliga führte, zu Borussia Dortmund II. Dort holte er in 56 Spielen im Schnitt 1,93 Punkte. 2017 dann der Wechsel in die zweite englische Liga zu Norwich City. Dort schaffte er im Sommer mit einem relativ kleinen Etat den Aufstieg in die Premier League. Farke steht auf Dominanz durch Ballbesitz, presst hoch und erwartet daher ein extrem hohes Maß an Fitness. Er will selbst die brenzligsten Situationen stets spielerisch lösen, den Gegner laufen und ermatten lassen.
Mit Norwich kommt der markante Farke in der Premier League, trotz einer tollen Vorstellung gegen Manchester City, aber aktuell nicht weiter. Mit dem BVB dürfte er endlich mal wieder weiter oben mitspielen.
Es stehen in den kommenden zehn Tagen weitere wichtige Spiele an: Mönchengladbach im DFB-Pokal am Mittwochabend, VfL Wolfsburg in der Bundesliga, Inter Mailand in der Champions League, der Klassiker gegen den FC Bayern in der Bundesliga. Vier entscheidende Spiele für den BVB und Lucien Favre, nach denen vielleicht in allen drei Wettbewerben alles vorbei sein könnte.
Sportdirektor Michael Zorc stellte nach der Nullnummer im Revierderby fest, dass alle Ziele noch zu erreichen seien. Die Konkurrenz schwächelt auch, die Tabellenspitze ist nicht weit weg. Dass der BVB über genug individuelle Klasse verfügt, steht außer Zweifel. Diese Klasse muss der Vizemeister jetzt auch wieder auf den Platz bringen. Favre und seine Spieler sind gefordert.
(as/mit Material von dpa und sid)