Diesen Fußball-Funktionär kennen auch die, die sonst nichts mit Fußball anfangen können – von TV-Formaten wie "Grill den Henssler" oder auch von seinen irren Abnehm-Geschichten durch eine Magen-OP (von 180 auf 90 Kilo in nicht einmal zwei Jahren). Doch bekannt wurde Reiner Calmund als Manager und Geschäftsführer von Bayer Leverkusen. Und noch heute, mit 73 Jahren, ist der Sport sein Beruf. Inzwischen als Experte und Moderator.
Auf die WM in Katar (20. November bis 18. Dezember 2022) freut er sich schon jetzt. Dass er hinfährt, ist für ihn klar. Trotz anhaltender Kritik wegen Menschenrechtsverstößen im Wüstenstaat. Auch darüber hat watson mit Reiner Calmund im Interview gesprochen.
watson: Herr Calmund, Sie wollen zur WM nach Katar fahren. Warum sind Sie trotz der anhaltenden Kritik an Menschenrechtsverletzungen in dem Land dabei?
Reiner Calmund: Zuallererst: Die Auswahl der Gastgeberländer wechselt sich zwischen den Konföderations-Verbänden ab. Die Entscheidung über das Austragungsland trifft die Fifa mit den Delegierten aus allen Erdteilen. So fand 2002 die WM in Japan und Korea statt, 2006 in Deutschland, 2010 in Südafrika, 2014 in Brasilien und 2018 in Russland. Für 2022 haben die 22 FIFA-Delegierten Katar mit 14:8 Stimmen vor den USA zum WM-Standort gewählt. Das haben wir zu akzeptieren, wenngleich ich mich für ein zweites Land, wie zum Beispiel die Vereinigten Emirate, als Co-Gastgeber ausgesprochen hätte. Die nächste WM wird übrigens 2026 gemeinsam von den USA, Kanada und Mexiko ausgetragen.
Nicht akzeptieren müssen wir, dass in Katar gegen Menschenrechte verstoßen wird. Ich finde es richtig, dass man mit dem Finger auf die Missstände zeigt. Da führt kein Weg dran vorbei. Die WM wird jetzt nicht auf einmal alles verändern. Ich bin aber davon überzeugt, dass sie zu Besserungen beitragen kann. Denn auf einmal gucken Millionen von Menschen auf genau dieses Land.
Besteht Ihrer Meinung nach nicht die Gefahr, dass Katar sich durch jeden Besucher noch bestätigt fühlt in seiner Politik?
Nein. Die kennen ihre Probleme. Die werden ja auch darauf angesprochen. Auch von der FIFA. Wenn wir über Katar sprechen, sollten wir auch von den umliegenden Ländern sprechen, wo es in vielerlei Hinsicht auch nicht besser läuft.
Und wir sollten auch darüber sprechen, welche große wirtschaftliche Bedeutung Katar für uns in Deutschland hat: Wir bitten um Gas aus dieser Region und auch die Deutsche Bank, VW, Hochtief, Siemens, Hapag Lloyd und ganz aktuell auch RWE lassen grüßen.
Dazu kommt: Wie viele Deutsche waren schon in dieser Region, um Urlaub zu machen? Strand, bezahlbare Top-Hotels und Shopping locken Jahr für Jahr viele Touristen an. Die Flughafen-Drehkreuze mit täglichen Verbindungen in alle Welt stehen mit ihren Airlines im Mittelpunkt. Qatar Airways und Doha liegen im Ranking der besten Fluglinien und Airports weltweit an erster Stelle, gefolgt von Singapur Airlines und Dubai mit Emirates. Das dürfen wir alles nicht vergessen.
Sie sagen also, wir sollten vorsichtig sein mit Kritik an Katar. Aber ist es nicht wichtig, dass die Deutschen gerade durch ihre eigene Vergangenheit auf Ungerechtigkeiten in der Welt reagieren?
Ja, das bringt eine besondere Sensibilität mit sich. Wir haben selbst eine Menschenrechts- und Weltpolitik gemacht, die die größte Verfehlung des letzten Jahrhunderts gewesen ist. Und das ist noch gar nicht lange her. Deutschland hat dafür gesorgt, dass neben Millionen Toten die WM nach 1938 zwölf Jahre lang gar nicht stattfinden konnte – durch den 2. Weltkrieg. Natürlich haben die heutigen Generationen damit nichts mehr am Hut. Aber man darf es nicht vergessen, es gehört zur deutschen Geschichte.
Viele Fans haben vorab gesagt, dass sie die WM in diesem Jahr nicht sehen wollen beziehungsweise auf keinen Fall hinfahren wollen. Glauben Sie, die bleiben weiterhin dabei?
Das muss man abwarten. Viele schließen sich erst mal der öffentlichen Debatte an. Ob sie dabei bleiben, wird man dann sehen. Die Euphorie hängt sicherlich auch mit einem erfolgreichen Auftreten der deutschen Nationalmannschaft zusammen. Aber eine Reise zur WM nach Katar ist auch nicht ganz günstig. Es wird genau wie in 2002 in Japan und Korea sicher keine Zuschauermengen aus Europa geben. Die echten Fußball-Verrückten werden trotzdem hinfahren, soweit sie die höheren Reisekosten in die Ferne bezahlen können.
Die Fifa behauptet, es werde die nachhaltigste WM aller Zeiten. Gleichzeitig werden Stadien extra für die WM gebaut, die dann auch noch komplett klimatisiert werden sollen. Das ist ein weiteres schwieriges Thema.
Wir sollten uns nicht um deren Sorgen kümmern, sondern um unsere eigenen. Zur Wahrheit gehört doch auch: Die deutschen Politiker müssen gerade hinfliegen und freundlich sein, weil wir auch Gas wollen, um die Krise gut zu meistern. Die Kataris haben genügend Energie im Boden drin. Sie gehen damit deshalb auch großzügiger um. Das ist doch logisch. Wenn es zu heiß wird, kühlen die das Stadion im Sommer eben runter, während wir im Winter die Rasenheizung anstellen müssen, damit der Ball rollt. Im Übrigen liegen die Temperaturen in Katar bei der WM im November und Dezember um die 25 Grad. Wenn es um Nachhaltigkeit geht, will ich auch darauf hinweisen, dass manche Stadien in Katar nach der WM ab- und in Afrika wieder aufgebaut werden sollen. Trotzdem muss die Weltorganisation generell bei allen Ländern auf den Klimaschutz achten.
Haben Sie einen Tipp – wie wird sich die deutsche Mannschaft bei der WM schlagen?
Deutschland zählt in seiner Gruppe mit Spanien zu den Favoriten. Aber man hat in den vergangenen Monaten und Jahren gesehen: Es hat die Konstanz, die Beständigkeit gefehlt. Ich habe in unsere Mannschaft dennoch so viel Vertrauen, dass ich sage: Die Vorrunde werden sie überstehen, wobei wir nicht vergessen sollten, dass durch das anstehende Spielprogramm bis zur WM mit ausschließlich englischen Wochen auch Ausfälle durch Verletzungen auftreten können.