Steht eine Fußball-Großveranstaltung an, ist seit 2011 klar, dass auch ihre Stimme bei den Übertragungen zu hören sein wird: Sportreporterin Claudia Neumann gilt als Pionierin auf ihrem Gebiet. Doch nachdem sie bei der Fußball-EM 2016 in Frankreich als erste Frau bei einem Männerturnier eingesetzt wurde, nahmen die Anfeindungen in den sozialen Netzwerken unglaubliche Ausmaße an.
Den Spaß an ihrer Arbeit hat die 57-Jährige dennoch nicht verloren – auch bei der diesjährigen EM wird sie wieder zahlreiche Spiele für das ZDF kommentieren. Zudem fordert sie als eine Mitbegründerin der Initiative "Fußball kann mehr" für eine Frauenquote im operativen Fußballgeschäft.
Im Gespräch mit watson erklärt sie, wie sie gelernt hat, mit den Anfeindungen umzugehen, wie sich ihr Umgang mit Sprache verändert hat und warum Frauen und junge Leute in Führungspositionen im Fußball so dringend nötig wären.
watson: Frau Neumann, können Sie sich erklären, warum es in Deutschland nicht nur 80 Millionen Bundestrainer, sondern auch 80 Millionen Fußball-Kommentatoren gibt?
Claudia Neumann: (lacht) Ich glaube, weil Fußball einfach einen herausgehobenen Stellenwert in Deutschland hat. Fußball ist eigentlich ein einfaches Spiel, zu dem jeder eine Meinung hat. Das war früher auch schon so, nur wurde es nicht so sehr kommuniziert, weil es keine sozialen Medien gab.
Waren Sie früher auch mit den Kommentatoren nicht immer einer Meinung?
Wenn ich mich so an meine früheren Fernseherlebnisse erinnere, dann haben wir natürlich auch immer diskutiert und gesagt "Was erzählt der da?". Aber eben nicht mit dieser Wucht.
Was ist heute anders?
Es steckt heutzutage oft eine ablehnende und hässliche Haltung dahinter, aber das ist wahrscheinlich eher der Zeitgeist und hat wenig mit Fußball und den handelnden Personen zu tun. Hier müssen wir uns als Gesellschaft hinterfragen. Aber das wird ja auch an vielen Stellen getan.
Sie selbst wurden nach ihren Einsätzen bei der EM 2016 oder selbst nach dem Bundesliga-Auftaktspiel Bayern gegen Schalke über die sozialen Netzwerke heftig beleidigt. Hat Ihnen das den Spaß am Fußball und am Kommentieren genommen?
Nein, überhaupt nicht. Ich erfahre alles nur aus Sekundärquellen, weil ich nichts nachlese. Das ist für mich nicht wichtig. Ich kann auch mit Lob sehr gut umgehen, ohne dass ich gleich denke, ich sei die Größte. Ich habe peu à peu eine Art des Umgangs entwickelt und damit bin ich fein.
Was müsste sich in Zukunft ändern, damit es dazu nicht mehr kommt?
Entweder wir gehen es mal richtig gesellschaftlich an, was auf politischer Ebene mit dem Phänomen der Netzhetze bereits passiert. Oder aber jeder kümmert sich um seinen eigenen Bereich und entwickelt eine persönliche Methodik. Für mich heißt das: größtmögliche Ignoranz.
Ein Thema, das aktuell immer mehr Bedeutung bekommt, sind Frauen, die im "Männerbusiness" Fußball nach vorn drängen.
Definitiv. Hier müssen wir die Diskussionen aber auch differenziert angehen, weil "Frauen im Fußball" ein riesiger Bereich ist. Ich bin mittlerweile im 30. Berufsjahr und beobachte speziell in den letzten 10 Jahren eine stetige Entwicklung, was die Frauenpräsenz im Fußball-Journalismus betrifft. Die Verantwortlichen in den Sportredaktionen haben ein großes Augenmerk, diese Entwicklung zu fördern
Sie haben vor zehn Jahren als erste Frau im deutschen Fernsehen bei der Frauen-WM ein Fußballspiel kommentiert und waren zuvor schon bei den Olympischen Spielen im Einsatz. Wie hat sich der Umgang mit unserer Sprache verändert?
Es lauern natürlich mehr Fallstricke, weil unsere Gesellschaft glücklicherweise sehr in Bewegung ist. Wir sind in einem Transformationsprozess und sehr sensibilisiert.
Was meinen Sie damit?
Zu Beginn der vergangenen Saison habe ich beim Spiel Bayern gegen Schalke mal den "schwarzen Peter" benannt. Ich wollte ausdrücken, dass der gewisse Spieler keine Schuld hat und in diesem Moment wurde David Alaba eingeblendet.
Oh ein unpassender Zufall.
Das war blöd und unglücklich, aber da bekam ich direkt einen Ellenbogencheck meines Assistenten in die Rippen. Das gesprochene Wort kann man nicht zurückholen, aber sich dafür entschuldigen. Vor zehn oder 15 Jahren wäre das kein Thema gewesen, aber ich bin froh, dass wir auf diese sprachliche Feinheiten Wert legen.
Immer mehr Wert wird auch auf Frauen im Fußball-Business gelegt. Sie meinten, der Begriff "Frauen im Fußball" sei riesig.
Genau. Denn wir reden auch von Frauen, die in Führungsfunktionen im Fußball fehlen und das beschäftigt uns aktuell. Da entsteht gerade analog zu vielen Bereichen in unserer Gesellschaft viel mehr Druck. Ich würde sagen, der Fußball hinkt deutlich hinterher. Das war viel zu lange ein hermetisch abgeriegelter Teilbereich, da gilt es schleunigst auf die Tube zu drücken.
Sie spielen auf die Initiative "Fußball kann mehr" an, die Sie gemeinsam mit neun weiteren prominenten Frauen aus dem Fußball wie Schiedsrichterin Bibiana Steinhaus-Webb und Nationaltorhüterin Almuth Schult ins Leben gerufen haben. Dort fordern Sie vom DFB und den Verbänden mehr Geschlechtergerechtigkeit und eine Frauenquote von 30 Prozent in Führungspositionen in Fußballverbänden.
Das ist eine Initiative, die seit Monaten besteht und an der wir lange gearbeitet haben. Die Entstehung dieser Initiative, sich für Frauen starkzumachen und in Teilbereichen mittel- bis langfristig eine Beteiligung zu fordern, ist eine gesellschaftliche Entwicklung. Wir haben uns viel Mühe gemacht, die Dinge zu entwickeln und vorzutragen. Das ist auch unabhängig von der aktuellen Krise des DFB entstanden. Zumal sich das Papier nicht nur auf den DFB, sondern auf alle Vereine und Verbände bezieht.
Nach dem Rücktritt von DFB-Präsident Fritz Keller ist die wichtigste Führungsposition im Verband aktuell nicht besetzt. Wäre eine Frau an der Verbandsspitze denkbar?
Ich kann mir das auf jeden Fall vorstellen. Was ich mir aber am liebsten vorstelle, dass man eine inhaltliche Qualitätsanalyse führt und sich fragt, wohin sich der Fußball entwickeln soll. Es sind viele Defizite zu erkennen
Welche?
Der Fußball muss wieder näher an die Bedürfnisse der Menschen, die ihn lieben, gerückt werden. Die Pandemie hat viele Themen aufgedeckt. Das darf man auch als Chance für inhaltliche Debatten begreifen, wie sich der Verband neu aufstellen kann. Erst danach schaut man, mit welchen Menschen man das über welchen Zeitraum angehen kann. Ob das eine Übergangslösung ist oder später in Ämter mündet, ist für mich zweitrangig.
Was heißt das konkret?
Erstmal muss geklärt werden, was gemacht werden soll und ob alle an einem Strang ziehen. Dann, unter welchen Voraussetzungen welches Personal geeignet ist und zur Verfügung steht. Je diverser das Team, desto wertvoller die Inhalte. Und um auf die eigentliche Frage zurückzukommen: Ja, ich kenne eine Frau, die ich als DFB-Präsidentin für sehr geeignet halte.
Wen?
Katja Kraus (Anm. d. R.: ehemalige deutsche Nationalspielerin, ehemaliges Vorstandsmitglied beim Hamburger SV und geschäftsführende Gesellschafterin der Sportmarketingagentur Jung von Matt/sports) bringt alle Voraussetzungen mit, um sowas hervorragend in einem Team lösen zu können. Sie hat reichhaltig Erfahrung, ist eine sehr modern denkende Frau, hat Expertise in allen Bereichen und ist als Stakeholderin grandios vernetzt. Besser geht es eigentlich nicht, aber sie hat bedauerlicherweise andere Pläne. Wichtig ist aber, dass Frauen mittelfristig Führungspositionen übernehmen, auch um neue Impulse in einer Kultur des Miteinander zu setzen.
Wo sehen Sie hier die Vorteile?
Frauen, aber auch junge Leute können andere Perspektiven bieten, mit Sachorientierung fruchtbare Diskurse entfachen, alte Gewohnheiten aufbrechen. Dadurch ist eine deutliche Erweiterung der Kompetenz in den Vereinen und Verbänden zu erwarten.