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VfB Stuttgart: Wie Matarazzo vom Columbia-Mathematiker zum Bundesliga-Trainer wurde

Stuttgart-Trainer Pellegrino Matarazzo
Pellegrino Matarazzo ist seit Januar 2020 Trainer beim VfB Stuttgart – es ist seine erste Station als Cheftcoach einer Profi-Mannschaft.Bild: www.imago-images.de / Cathrin Mueller
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Studium an der Columbia University, vom DFB für den Fußball-Lehrer-Jahrgang erst abgelehnt und jetzt Bundesliga-Trainer: Das ist Stuttgarts Pellegrino Matarazzo

20.08.2021, 20:40
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Besonnen, ruhig und mit einem Sinn für Humor: So präsentierte sich der damalige Nobody Pellegrino Matarazzo im Januar 2020, als er als neuer Cheftrainer beim VfB Stuttgart vorgestellt wurde.

Er witzelte beispielsweise beim Klub-TV über die Aussprache seines Namens, gab aber auch schon die Marschrichtung vor, wie Stuttgart unter ihm spielen soll:

"Ich möchte offensiv und mit Vorwärtsdrang spielen mit den vielen Qualitätsspielern, die wir in unserem Kader haben. Außerdem wollen wir Dominanz ausstrahlen durch Spielkontrolle. Es geht darum, möglichst über 90 Minuten Zugriff auf das Spiel zu haben. Wir brauchen bestimmte Chancenmuster, wie wir zum Torabschluss kommen."
Pellegrino Matarazzo am Beginn seiner Stuttgarter Amtszeit

Eineinhalb Jahre später hat der Amerikaner mit italienischen Wurzeln den VfB Stuttgart aus der zweiten Liga in die Bundesliga geführt, geht in seine zweite vollständige Saison und grüßt von der Tabellenspitze. Zugegebenermaßen hat diese Statistik nach dem ersten Spieltag wenig Aussagekraft, dennoch ist es eine schöne Momentaufnahme für den Verein und seine Fans vor dem Spiel gegen Leipzig (Freitag, 20.30 Uhr).

Dabei waren die Zweifel zu Beginn groß, weil Matarazzo für die meisten unbekannt war. Als Jugend-Trainer in Nürnberg und Nachwuchs-Coach und Co-Trainer von Julian Nagelsmann in Hoffenheim hatte er sich zwar erste Erfolge erarbeitet, dennoch kam die Verpflichtung durch Stuttgart-Sportdirektor Sven Mislintat überraschend. Rückblickend hat Mislintat aber alles richtig gemacht.

Wie tickt Matarazzo?

In Paterson (New Jersey) in den USA geboren, studierte er an der Columbia University angewandte Mathematik. Ein Fußball-Stipendium ermöglichte ihm das, weshalb er für das Fußball-Team der Columbia Lions auflief. Damals knüpfte er eine seiner ersten Verbindungen nach Deutschland: Sein Trainer kam aus Bremen.

"Er sagte nur: 'Nennt mich Dieter' und ich verstand nicht, warum er nicht beim Nachnamen genannt werden wollte", erklärte Matarazzo in einem Interview auf der Webseite von der TSG Hoffenheim. Der ganze Name lautete Dieter W. Ficken.

"Ich konnte mir nicht vorstellen, den ganzen Tag im Büro zu verbringen. Ein paar Kumpels von mir haben dort sogar geschlafen. Das wollte ich nicht."
Pellegrino Matarazzo darüber, warum er nach seinem Studium nicht anfing, bei einer Bank zu arbeiten

Schon damals wollte der 1,98-Meter-Riese mit Fußball sein Geld selbst verdienen, versprach seinen Eltern aber erst, das Studium abzuschließen. Im Jahr 2000 war es soweit. Obwohl Matarazzo ein sicherer Job bei einer Investmentbank in Aussicht stand, wagte er den Schritt nach Europa. "Ich konnte mir nicht vorstellen, den ganzen Tag im Büro zu verbringen. Ein paar Kumpels von mir haben dort sogar geschlafen. Das wollte ich nicht", zitiert ihn das "Schwäbische Tagblatt". Oberliga mit Eintracht Bad Kreuznach, statt gesichertes Einkommen in einem New Yorker Finanz-Unternehmen. Wie bekam der Italo-Amerikaner die Verbindung zu einem Verein in einer 45.000-Einwohner-Stadt?

Über Dietmar Mertel. Der heute 52-Jährige war in den 90er Jahren in die USA gezogen, hatte unter anderem seinen Heimatverein, den SV Hermersberg, bei Kaiserslautern zurückgelassen. Neben seiner Arbeit als Elektroingenieur wollte er in Amerika weiter im Fußball aktiv sein. Deshalb war er als Regional-Scout im Großraum New York aktiv.

"Ich hätte ihn nie spielen sehen, wenn ich nicht vorher schon im Fußball vernetzt gewesen wäre."
Matarazzo-Entdecker Mertel gegenüber watson

Mertel erzählt gegenüber watson: "Rino spielte in einer Gruppe mit Studenten und Ehemaligen, die sich regelmäßig getroffen haben. Da fiel er mir sofort auf. Ich hätte ihn nie spielen sehen, wenn ich nicht vorher schon im Fußball vernetzt gewesen wäre." Was er meint: Ihm wurde die Studentengruppe zum Scouten empfohlen.

Dietmar Mertel
Dietmar Mertel stellte den Kontakt nach Deutschland zu Matarazzos erstem Verein her.Bild: Privat / privat

Zu diesem Zeitpunkt hatte Matarazzo allerdings schon ein Europa-Abenteuer hinter sich. Ein dubioser Berater hatte ihm zuvor in Italien Probetrainings in der zweiten und dritten Liga versprochen. Daraus wurde trotz großer Versprechen nichts.

"Rino kam aus Italien zurück, wo er eigentlich ein Probetraining absolvieren sollte. Das hat aber nicht stattgefunden."
Mertel über das Probetraining von Matarazzo in Italien

Mertel erinnert sich: "Rino kam aus Italien zurück, wo er eigentlich ein Probetraining absolvieren sollte. Das hat aber nicht stattgefunden. Er kam zurück und ich habe ihm gesagt, dass er etwas hat, was man nicht trainieren kann." Mertel war begeistert und ließ alte Kontakte nach Deutschland aufblühen. "Ich habe wegen Rino sogar auch beim 1. FC Kaiserslautern angerufen." Der war 1998 sogar noch Deutscher Meister geworden.

"Ich habe dann bei ehemaligen Spielern oder Gegenspielern aus der Heimat angerufen, die in der Oberliga oder Regionalliga trainieren. Da kam Heinz Halter ins Spiel", erzählt Mertel. Der heute 63-Jährige trainierte damals den Viertligisten Bad Kreuznach. Halter von Matarazzo zu überzeugen, war allerdings nicht ganz einfach.

Nächtliche Telefonate

Mertel berichtet: "Bei den Gesprächen mit ihm sagte er mir: 'Wenn du etwas von mir willst, dann ruf mich am Sonntag früh zwischen 8 und 10 Uhr an. Danach genieße ich das Wochenende und bin unterwegs'". Wohl gemerkt: Wegen des Zeitunterschieds musste Mertel also mitten in der amerikanischen Nacht in Deutschland anrufen. Lachend führt Mertel aus: "Zum Ende des ersten Anrufs sagte Heinz: 'Wenn du von dem Spieler überzeugt bist, dann ruf mich nächste Woche nochmal an.' Nach der zweiten Woche sagte er mir, dass ich noch einen Spieler mitschicken soll. Meine Frau dachte, was ist denn jetzt los, weil ich mitten in der Nacht aufgestanden bin."

Zum Glück – aus Mertels Sicht – reichte der dritte Anruf, um die Vermittlung von Matarazzo zu Bad Kreuznach zu klären. Halter wurde zum ersten Trainer von Matarazzo in Europa. "Durch das Hotel des Präsidenten und Mäzens hatten wir gute Möglichkeiten und konnten Rino Verpflegung und eine Unterkunft bieten," erklärt Halter.

Pellegrino Matarazzo zu seiner Zeit in Nürnberg
Pellegrino Matarazzo in seiner Zeit als Spieler bei Nürnberg II.Bild: www.imago-images.de / Baumann

Nachdem Matarazzo in Deutschland angekommen war, überzeugte er Halter in Windeseile. "Er konnte von Beginn ein Spiel lesen und an sich ziehen. Obwohl er am Anfang noch nicht so gut Deutsch sprach, hat er das Spiel gut geordnet. Außerdem hatte er Biss, war knallhart in den Zweikämpfen und hat die Bälle gut verteilt." Eine Einschätzung, die Matarazzo teilweise teilt. In Hoffenheim sagte er mal: "Ich war durchschnittlich schnell und technisch nicht immer ganz sauber, hatte aber ein gutes Auge und war knallhart im Zweikampf."

"Rino war damals schon sehr wissbegierig, hat alles hinterfragt und den Fokus auf Dinge gelegt, in denen er einen Sinn sah."
Heinz Halter, Matarazzos erster Trainer in Deutschland, gegenüber watson

Auf die Frage, ob er in Matarazzo schon damals einen erfolgreichen Trainer gesehen habe, antwortet Halter ehrlich: "Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob er ein guter Trainer wäre. Aber er war damals schon sehr wissbegierig, hat alles hinterfragt und den Fokus auf Dinge gelegt, in denen er einen Sinn sah. Er hat mich als Trainer in den Gesprächen gefordert."

Anfängliche Probleme in Deutschland

Aber obwohl der Trainer ein Fan von ihm war, soll Matarazzo zu Beginn auch gezweifelt haben. Ein neues Land, eine neue Sprache: Das birgt für junge Menschen auch Probleme. Entdecker Mertel erklärt: "Damit so etwas nicht mit Rino passiert, haben wir jede Woche mehrfach telefoniert und über einzelne Trainings gesprochen. Die ersten drei, vier Monate waren hart für ihn, auch wegen der fremden Sprache." Auch Halter erzählt davon: "Er hatte überlegt schon in seinem ersten Jahr zurückzugehen. Aber ich habe ihn dann motiviert und gesagt, dass er sich durchbeißen kann."

Das tat er, lernte schnell Deutsch, um sich zurechtzufinden. Halter erzählt lachend: "Er konnte damals besser Deutsch als ich Englisch. Ich konnte mich wunderbar mit ihm austauschen. Ich als Pfälzer habe immer gesagt, dass er besseres Hochdeutsch spricht als ich." Und auch Mertel berichtet: "Er hat irgendwann zu mir gesagt, dass wir jetzt kein Englisch mehr reden. Wir haben nur noch auf Deutsch kommuniziert. Er spricht auch italienisch und ist schon sprachbegabt."

Viele Gespräche sorgten für Ansehen im Verein

Neben der sprachlichen und der sportlichen Integration brachte sich Matarazzo aber auch ins Vereinsleben der Eintracht Bad Kreuznach ein. Er soll auf die Menschen im Verein zugegangen sein und Gespräche gesucht haben. Das habe ihm laut Halter im Verein großes Ansehen gebracht. Gerade diese empathische Eigenschaft sorgen dafür, dass der Italo-Amerikaner auch bei den VfB-Spielern angesehen und akzeptiert ist.

Bei Eintracht Kreuznach hielt es Matarazzo nur eine Saison. Danach folgte der Wechsel zum Regionalligisten (damals 3. Liga) SV Wehen Wiesbaden. Über Preußen Münster, erneut Wehen Wiesbaden, Wattenscheid und Nürnberg II verlief seine Spieler-Karriere bis zum Ende 2009 hauptsächlich in der Regionalliga. Schon vor dem Ende seiner Spielerkarriere war Matarazzo klar, "dass ich Trainer werden will". In Nürnberg hatte er einen Vertrag mit einer Weiterbeschäftigung nach seiner Spielerkarriere unterschrieben. Trotzdem beschäftigte ihn eine Rückkehr in die USA.

Mertel, der ihn auch nach seiner Vermittlungstätigkeit nach Deutschland immer wieder mit freundschaftlichem Rat zur Seite stand erzählt: "Ich habe ihm gesagt, dass er in Deutschland was werden kann, wenn er alles gibt und die Trainer-Scheine macht. Sollte es dann in Deutschland doch nicht klappen, wäre er für Amerika immer noch sehr, sehr gut ausgebildet."

Absage für DFB-Trainerlehrgang

In den folgenden Jahren sammelte der heute 43-Jährige einen Schein nach dem anderen und bewarb sich 2014 zum DFB-Trainer-Lehrgang. Ohne Erfolg. Bei einem Treffen mit Mertel wirkte Matarazzo nicht bei der Sache. "Wir saßen in einem Restaurant und ich habe gemerkt, dass ihn etwas beschäftigte. Dann sagte er, dass er nicht angenommen wurde und ihm der DFB mitgeteilt hatte, dass er sich noch einmal bewerben soll. Ich habe zu ihm gesagt: 'Auch das wird für etwas gut sein'", erzählt Mertel.

Das war es auch. Ein Jahr später bewarb er sich erneut, wurde genommen und lernte den heutigen Bayern-Trainer Julian Nagelsmann während des Lehrgangs kennen. Beide teilten sich sogar ein Zimmer und Nagelsmann war mit dafür verantwortlich, dass Matarazzo 2017 nach Hoffenheim wechselte. Erst war er U17-Trainer, später an der Seite von Nagelsmann bei den Profis.

Julian Nagelsmann (M.) und Pellegrino Matarazzo
Ein Herz und eine Seele: Julian Nagelsmann (M.) und Pellegrino Matarazzo (r.) während der gemeinsamen Zeit in Hoffenheim.Bild: imago sportfotodienst / Jan Huebner
"Ein paar Monate bevor es beim VfB Stuttgart ernst wurde, gab es eine Anfrage. Ein Klub wollte ihn als eine Art Sportdirektor."
Matarazzo-Freund Dietmar Mertel

Im Januar 2020 folgte der überraschende Wechsel nach Stuttgart. Aber: Schon vorher hatte Matarazzo die Möglichkeit, einen Job in der ersten Reihe im Fußball-Geschäft einzunehmen. Mertel verrät: "Ein paar Monate bevor es beim VfB Stuttgart ernst wurde, gab es eine Anfrage. Er war damals in Hoffenheim und ein anderer Klub wollte ihn als eine Art Sportdirektor." Welcher Verein das war, wollte Mertel nicht verraten. "Ich habe ihm dann gesagt, dass er für mich ein Trainer-Typ ist, weil er Menschen positiv beeinflussen kann. Deshalb sollte er die direkte Verbindung zur Mannschaft sein."

Sven Mislintat, VfB Stuttgart Sportdirektor
Matarazzo-Befürworter: Stuttgart-Sportdirektor Sven Mislintat.Bild: www.imago-images.de / Pressefoto Rudel/Robin Rudel

Matarazzo nahm sich diesen Ratschlag zu Herzen, blieb im Trainergeschäft und prägt aktuell eine extrem erfolgreiche Phase der Stuttgarter. Und soll sie auch noch lange weiterprägen. "Egal, wo wir stehen, und selbst, wenn wir absteigen, ist und bleibt Rino unser Trainer", sagte Sportdirektor Sven Mislintat vor der Saison im Interview mit dem "kicker."

Und auch Matarazzo selbst hegt keine Wechselgerüchte, sagte im aktuellsten "ESPN"-Interview: "Ich bin sehr fokussiert auf das, was ich mache. Und ich bin sehr glücklich, hier in Stuttgart zu sein." Die Fans, Sven Mislintat und Vorstandsvorsitzender Thomas Hitzlsperger werden das sicherlich gerne hören.

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