Es gibt viele interessante Menschen, mit denen ich gerne mal ein Fußballspiel schauen würde. Ein Profi-Trainer zum Beispiel. Der könnte genau erklären, woran es wieder einmal hakt im Offensivspiel meines Teams. Oder eine Spielerin, die mir sagen könnte, warum Stürmer XY quergelegt und nicht selbst geschossen hat.
Nicht weniger spannend: Ein Schiedsrichter, der mit genauer Regelkunde auf das Spiel schaut und wüsste, warum es gerade absolut keinen Sinn ergibt, lautstark Foul oder Handspiel einzufordern.
Lucky me, denn wie es das Schicksal wollte, bekam ich die Gelegenheit, das EM-Spiel Niederlande gegen Österreich (2:3) mit niemand geringerem als Fifa-Schiedsrichter Harm Osmers zu schauen. Der 39-Jährige pfeift seit acht Jahren in der Bundesliga und war auch schon in der Europa League und als Video-Assistent unter anderem bei der Frauen-EM 2022 im Einsatz.
Der Anlass unseres Treffens: Ein EM-Event in Hamburg, veranstaltet vom Homekamera-Hersteller Ring, bei dem Referee Osmers einen Vortrag zum Thema Video-Assistent (VAR) im Fußball gehalten hat. Die Teilnehmer:innen waren anschließend eingeladen, zum Barbecue zu bleiben und gemeinsam die EM-Partie zwischen den Niederländern und Österreichern zu verfolgen.
Ich schnappte mir also eine Flasche stilles Wasser und nahm neben Schiri Osmers Platz, gespannt, der geballten Regel-Expertise zu lauschen. Folgendes habe ich dabei gelernt.
Osmers gibt unverwandt zu, dass er an einer Berufskrankheit leidet. Denn während wir alle gebannt das Geschehen rund um den Ball verfolgen, gilt sein Blick in erster Linie dem Schiedsrichter des heutigen Abends. Dessen Namen hat er – im Gegensatz zu mir – natürlich parat: Der Mann kommt aus der Slowakei und heißt Ivan Kruzliak.
Osmers kennt und schätzt ihn von Uefa-Lehrgängen und beobachtet heute interessiert, wie sich der Kollege positioniert, wie er kommuniziert und was er wie entscheidet.
Als das Spiel nach einer halben Stunde hitziger wird und Österreich zwei gelbe Karten kassiert, sagt Osmers: "Jetzt kriegt er langsam Druck, die Pfiffe kommen. Aber super, wie er sich auf den geänderten Spielcharakter einstellt." Schiri Kruzliak muss jetzt einen kühlen Kopf bewahren und aufpassen, dass ihm das Spiel nicht entgleitet.
Schon zu Beginn der Partie erklärt Osmers mir, Schiedsrichter würden sich stets so bewegen, dass sie das Spielgeschehen möglichst zwischen sich und einem der Linienrichter haben. Diese Information werde ich für den Rest des Abends nicht mehr ausblenden können und mich immer wieder dabei erwischen, wie ich imaginäre Linien zwischen den Unparteiischen ziehe. Was mich zu meiner nächsten Erkenntnis bringt.
Von Osmers erfahre ich unter anderem, wie er und sein Team sich bei Eckbällen aufteilen. Der Linienrichter schaut auf den Schützen, Osmers auf das Getümmel im Strafraum. Bei der Ausführung zählt der über Headset verbundene Kollege runter ("2, 1, jetzt") und Osmers weiß: Jetzt segelt der Ball gleich in den 16er.
Auch sonst greifen sich die Unparteiischen gegenseitig unter die Arme: Die Video-Assistenten können den Schiedsrichter bitten, strittige Szenen noch einmal am Monitor zu prüfen und so verhindern, dass er eine klare Fehlentscheidung trifft. Mit den Linienrichtern gleicht Osmers in ruhigeren Spielmomenten ab, welche Spieler bereits verwarnt sind.
Schon gehört? Es gibt einen neuen watson-Podcast: "Toni Kroos – The Underrated One". Hier geht's zu Folge 1:
Und zu guter Letzt nehme ich noch mit:
Als das 2:2 der Niederländer wegen eines möglichen Handspiels vom VAR geprüft wird – was auch in unserer zusammengewürfelten Truppe der ein oder andere gesehen haben will – erwidert Osmers abgeklärt: "Was soll da gewesen sein?" Und er wird Recht behalten, von einem Handspiel ist keine Spur, der Treffer zählt.
Auch als kurz zuvor ein niederländischer Verteidiger seinen Gegenspieler in Strafraumnähe zu Fall bringt, sagt Osmers mit der Erfahrung von über 100 Bundesligaspielen im Rücken: "Wenn der so betont unschuldig die Arme hebt, war da was." Das seien jedoch nur Indizien, schränkt er gleich ein, zu wenig, um allein darauf eine Entscheidung zu stützen.
Der gebürtige Bremer weiß selbst bestens, wie schwierig einige Fälle sein können. Manchmal diskutiert er beim Fußballschauen in einer Whatsapp-Gruppe mit anderen Schiedsrichter-Kollegen aus der Bundesliga. "Der eine hätte weiterlaufen lassen, der andere gepfiffen – auch wir sind uns gelegentlich uneins", erzählt Osmers.